Von der Heiligen Weisheit
Die Hagia Sophia in Istanbul soll nun wieder zur Moschee werden. Auf Anordnung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan findet das erste islamische Gebet am kommenden Freitag statt. Hagia Sophia, ein Wort aus dem Griechischen, heißt die Heilige Weisheit. So wurde die Kirche, die größte der damaligen Christenheit, ebenso wie ihre Vorgängerin im griechischen Byzanz, genannt, als sie im Jahr 532 bis 537 von Kaiser Justinian erbaut wurde. Die Vorgeschichte zu dieser Kirche war allerdings nicht dazu angetan, sie zur Heiligen Weisheit werden zu lassen, denn am Beginn stand kein göttlicher Funke, sondern ein Massenmord.
Es waren die fünf Tage des Nika-Aufstands des Jahres 532, die am 19. Jänner im Hippodrom von Konstantinopel, wie Istanbul damals hieß, ihren grausamen Höhepunkt fanden. Die alte Basilika der Hagia Sophia war zerstört, die Stadt stand in Flammen. Das aufgebrachte Volk hatte sich im Hippodrom, dem größten Veranstaltungszentrum, einer Art Circus Maximus, versammelt. Der Kaiser ließ die Eingänge durch Soldaten besetzen und alle Anwesenden, ausschließlich Männer, umbringen. Dreißig- oder gar vierzigtausend sollen es gewesen sein. Es war das Ende des Aufstandes. Einen Tag später befahl Kaiser Justinian den endgültigen Abbruch der alten Basilika und gleichzeitig den Bau der neuen Hagia Sophia. Sozusagen als Wiedergutmachung des Gemetzels im Hippodrom. In nur fünf Jahren, Rekordzeit auch nach heutigen Maßstäben, wurde die riesige Kirche, die alle bisherigen Maßstäbe sprengte, erbaut.
Fast tausend Jahre blieb die Hagia Sophia Zentrum des Christentums, bis die Osmanen unter Sultan Mehmet II. am 29. Mai 1453 Konstantinopel eroberten. Keiner hat diese historischen Stunden so eindrücklich geschildert wie Stefan Zweig in seinen „Sternstunden der Menschheit“, als die Osmanen durch die „Kerkaporta“, eine Tür, die zu schließen vergessen wurde, in Konstantinopel eindringen konnten. Die Hagia Sophia wurde zur Moschee, die christlichen Symbole entfernt, die Malereien und Mosaike von Heiligen unter Putz gelegt. Etwa fünfhundert Jahre blieb das so, bis 1934 Mustafa Kemal Atatürk, Gründer der modernen Türkei, die Hagia Sophia im Zuge der Trennung von Kirche und Staat zu einem Museum machte. Erdoğan, heute mächtiger Mann in der Türkei, macht diesen Schritt nun trotz internationaler Proteste rückgängig. Bevor wir uns aber zu sehr erregen, sollten wir uns dieser Geschichte – und auch anderer, in denen die Katholiken Moscheen zu Kirchen umfunktionierten – erinnern.
Fast tausend Jahre blieb die Hagia Sophia Zentrum des Christentums, bis die Osmanen unter Sultan Mehmet II. am 29. Mai 1453 Konstantinopel eroberten.
Walter Fink
walter.fink@vn.at
Walter Fink ist pensionierter Kulturchef des ORF Vorarlberg.
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