Savanne

Die Sonne hatte ihren Scheitelpunkt noch nicht erreicht. Die Ebene war ein Fluß aus Licht. Etwas ging durch diesen Fluß aus Licht. Es war ein Streifen, etwas Schweres, das nur langsam vorankam. Etwas hing, und an dem, was da hing, hing noch etwas. Es bewegte sich. Es hatte ein Bein, vielleicht mehrere Beine. Es war ein Körper. Durch diesen Körper flossen Blutströme, die sich in Kapillaren verloren. Hitze umschloß diesen Körper, der um sein Überleben kämpfte. Das Licht wollte diesen Körper aufnehmen, ihn ausdörren und zum Verschwinden bringen. Die Hitze drang in diesen Körper ein, denn er verlangte nach Luft, und indem er sie einsog, sog er die Hitze in sich ein. Einmal im Körper, arbeitete sie sich in die feinsten Verästelungen vor. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Hitze den Körper besiegen würde. Dieser Körper bewegte sich auf Beinen, die hingen, und an denen etwas hing. Auf diesen Beinen saß ein Rumpf, auf dem eine Kugel saß. In dieser Kugel hämmerte das Blut, und das Blut erzeugte Bilder, die diesen Körper vorantrieben.
Noël
Immer hatte es Momente gegeben, da Noël nicht weiter wusste. Von Anfang an. In diesem Land hing der Himmel manchmal so tief, dass Noël nicht wusste, wo er sich hätte verstecken können. In solchen Stunden stieg er aufs Rad und fuhr, bis er wieder etwas spürte. Immerhin spürte er seinen Schweiß. Er spürte, wie sein Körper sich erhitzte. Er spürte, wie seine Muskeln anschwollen. Alles war Atem, bis in die letzte Körperzelle hinein. Das war das große Vergessen. Die Wolken standen so tief wie nie. Sollte der Winter schon vor der Tür stehen? November mit seinen endlosen Nebeltagen, wo nur das Schlottern der frierenden Beine einen daran erinnerte, dass man am Leben war? Nein, es war doch Sommer, oder zumindest schwamm alles in einer lauwarmen Suppe, die sie hier Sommer nannten. Die Wolken sahen immer anders aus. Es war nicht das übliche Abendrot, das in ihnen lange nach Sonnenuntergang noch nachglühte. Die Wolken waren aus Metall. Aus einem violetten Metall, das er noch nie gesehen hatte. Die größte, schwerste dieser Wolken sank, sie kam näher. Ihr metallisches Licht legte sich auf das Pflaster der Straße. Ein geparkter Wagen bestand nur aus diesem Licht. In einem Fenster auf der anderen Straßenseite öffnete sich ein Raum, der aus dem violetten Licht der Wolke bestand. Noel stieg aufs Rad. Als er antrat, warf er einen Blick aufs Kettenwerk. Er trat die hohe Übersetzung so leicht wie nie. Ein helles Lichtbündel durchfuhr ihn, es war wohl das Glück. Ein Fußgänger trat vor ihm auf die Straße. Er musste scharf abbremsen und einen Haken schlagen. Es war Vochmann, der Bäcker, bei dem er bis vor ein paar Wochen noch seine Brötchen gekauft hatte. Vochmann war in Pension und ging nun leidenschaftlich und ausgiebig zu Fuß durch die Stadt, was er früher nur am Sonntag hatte tun können. Die Leidenschaft fürs Spazierengehen hatte ihn wohl blind gemacht. Noel grüßte Herrn Vochmann und hob die Hand, der aber grüßte nicht zurück. Dabei war er der freundlichste Mann in der ganzen Stadt. Er grüßte jeden, und er wurde von jedem gegrüßt. Er hatte Noel immer lustige Fragen über sein Heimatland gestellt. Noels Antworten hatten aus Herrn Vochmann sein lautestes Lachen herausgekitzelt. Das Frage-und-Antwort-Spiel war ihr Spiel. Vochmann: Gibt es bei Euch in Afrika Kamele auf den Bäumen? Noël: Ja, und sie bringen sogar selber Kubel, damit man ihnen melken kann. Zweimal Lachen. Zwei verschiedene Kulturen des Lachens, die einander begegnen, einander annehmen. Noëls Lächeln gefror, denn aus einer Parklücke schoß ein schwarzer Golf. Noël riß an beiden Bremsen und konnte ausweichen. Er warf die Hand hoch und rief What the fuck! Der Golf fuhr davon, als wäre nichts. Und Noel murmelte allein in diesem wunderbaren violetten Licht. Noël trat härter in die Pedale. Seine nackten Beine wurden umhüllt von diesem violetten Licht, nun auch seine Hände, seine Arme. Nahm das Licht an Intensität mit seiner Fahrtgeschwindigkeit zu? Die lange Gerade auf den Hügel, die ihn sonst außer Atem brachte, zog er mühelos hinauf. Ihm schien sogar, daß die Straße ihre Steigung verloren hatte. Aber das war ja nicht möglich. Wahrscheinlich machte sich einfach das tägliche Radfahren bemerkbar. Er bog in die Gasse ein. Erst als er in sie einfuhr, bemerkte er, dass er wieder hier war. Er warf einen Blick hinauf auf die Fenster der Wohnung. So lange war es noch nicht her. Oder waren vier Jahre eine lange Zeit? Gemessen an den Augen von Julian ja. Gemessen an der Traurigkeit in diesen Augen, wenn Noël wieder ging.

Zur Person
Wolfgang
Hermann
Geboren 1961 in Bregenz
Studium Philosophie u. Germanistik
Publikationen „Das schöne Leben“, „Die Kunst des unterirdischen Fliegens, “Das japanische Fährtenbuch”, „Die letzten Gesänge“, „Walter oder die ganze Welt” und viele weitere
Preise u. a. Anton Wildgans Preis, Jürgen Ponto Preis
Wolfgang Hermann: “Der Lichtgeher”, Erzählung, PalmArtPress, 134 Seiten, im Buchhandel ab 1. September.