Im pädagogischen Zölibat

Kultur / 12.09.2020 • 18:00 Uhr
Im pädagogischen Zölibat
Familie Kaspar und Theresia Moosbrugger in Nüziders um 1895; Martina stehend ganz rechts.

Die Lehrerin Martina Moosbrugger (1867–1940).

Als Theresia Biedermann, die Gattin des damals weithin bekannten Gerichtsadjunkts Kaspar Moosbrugger, am Abend des 29. Oktober 1867 als viertes Kind eine Tochter zur Welt brachte, war der Vater zutiefst enttäuscht. Nach einem kränklichen Buben war die Neugeborene das dritte Mädchen in Folge. Der sonst so aufgeklärte Vater war eben doch ein Patriarch. An seinen Schwager Franz Michael Felder, den Dichter in Schoppernau, schrieb er, seine Frau habe ihn „wieder mit einem Kind beschenkt, das ich aus Unmut, es nicht ‚Martin‘ taufen lassen zu können, ‚Martina‘ heißen ließ.“ Diese Martina sollte dem Vater allerdings in mehrerlei Hinsicht ähneln und noch viel Freude bereiten. Auch seine Hoffnung auf männliche Nachkommen erfüllte seine Frau in den folgenden Jahren ausführlich. Es folgten noch sieben an der Zahl.

Martina Moosbrugger verlebte ihre Kindheit in Bludenz und die Jugendjahre in Nüziders, wo die Großfamilie ein kleines Anwesen erworben hatte. Nachdem ihre beiden älteren Schwestern nach frühen Heiraten das Elternhaus verließen, wurde Martina die wichtigste Stütze ihrer Mutter in Haus und Hof sowie bei der Erziehung der jüngeren Brüder. Da sie durchgehend eine gute Schülerin gewesen war, gab man schließlich dem Drängen der inzwischen 21-Jährigen nach, das Innsbrucker Lehrerseminar zu besuchen. Im Sommer 1895 legte sie hier die Reifeprüfung ab und bekam bereits im Herbst desselben Jahres die Stelle einer Vertretungslehrerin in Dornbirn. Zwei Jahre danach legte sie mit ausgezeichnetem Erfolg die Lehrbefähigungsprüfung ab. Für den konservativen Vorarlberger Landesschulrat hatte die Junglehrerin allerdings am falschen Institut ihre Ausbildung absolviert. Die staatliche Lehrerbildungsanstalt in Innsbruck galt nämlich als liberal ausgerichtet. Geleitet wurde sie von Josef Durig aus Tschagguns, der aus ärmlich bäuerlichen Verhältnissen stammte und durch Intelligenz und Fleiß einen außergewöhnlichen Bildungsaufstieg geschafft hatte. Sein Sohn Dr. Arnold Durig brachte es als Professor für Medizin an der Wiener Universität zu einer über Österreich hinausreichenden Bekanntheit.

Im pädagogischen Zölibat
Mädchenvolksschule Dornbirn Hatlerdorf 1913. Rechts neben dem Geistlichen Lehrerin Martina Moosbrugger. Bildquellen: Stadtarchiv Dornbirn, Dr. Josef Concin

Direktor Durig kannte natürlich den familiären Hintergrund von Martina Moosbrugger als Tochter Kaspar Moosbruggers und Nichte Franz Michael Felders und förderte ihr Fortkommen. Die heimische Schulbehörde bevorzugte bei ihren Personalentscheidungen aber Absolventinnen und Absolventen der katholischen Privatseminare. In Vorarlberg war ein solches – allerdings nur für männliche Studenten – 1888 in Feldkirch eingerichtet worden, nachdem der bisherigen Ausbildungsstätte in Bregenz die Landesmittel weitgehend entzogen worden waren. Der Zugriff auf die Schule und die Ausrichtung der Lehrerschaft bildeten einen der Kernpunkte im Konflikt zwischen Kirche und Staat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Martina Moosbrugger sollte früh Opfer dieser Auseinandersetzung werden. Mit Schulbeginn 1900 musste sie erfahren, dass ihre Stelle an der Volksschule Dornbirn-Markt mit einer Absolventin der privaten Lehrerinnenbildungsanstalt im Kloster Zams besetzt wurde. Obwohl Moosbrugger mit bestem Erfolg an dieser Schule unterrichtet hatte und vom Dornbirner Ortsschulrat an die erste Stelle gereiht worden war, stand „die allgemein geachtete Lehrerin“, so eine Salzburger Zeitung, „als mittelloses Mädchen auf dem Pflaster.“ Ein Protestschreiben der Gemeindevertretung gegen diese Willkür blieb ohne Wirkung. Deshalb beschloss die Kommune, der kurzfristig vertragslos gemachten Lehrerin als Überbrückungshilfe ihren Lohn ein Vierteljahr lang weiterzubezahlen. Bis zum Beginn des folgenden Schuljahres hielt sich Moosbrugger mit Nachhilfeunterricht mehr schlecht als recht über Wasser. Zudem absolvierte sie an der Bauhandwerkerschule in Bregenz als erste Frau einen Kurs in technischem Zeichnen. Danach wurde von der privaten Mädchenfortbildungsschule Dornbirn ein Vorbereitungslehrgang für Schülerinnen, welche die sechsjährige Schulpflicht absolviert hatten, eingerichtet. Dieser Kurs wurde nun von Martina Moosbrugger geführt. Hier lernte sie die über Dornbirn hinaus bekannte Lehrerin Katharina Huber kennen. Mit ihr gründete sie einen gemeinsamen Haushalt, da Lehrerinnen, wenn sie ihren Beruf ausüben wollten, nicht heiraten durften, also „Fräuleins“ bleiben mussten. Huber hatte dadurch Aufmerksamkeit erregt, dass sie für sich das sogenannte Intelligenzwahlrecht forderte. Personen mit Matura – besonders Lehrer, Offiziere und Geistliche – erhielten auch ohne Steuerleistung das Wahlrecht. Der Verwaltungsgerichtshof lehnte aber die Forderung von Frau Huber und Lehrerinnen in anderen Kronländern mit dem Bescheid ab, unter „Personen“ meine das Gesetz nur Männer.

Als schließlich in der Republik 1918 das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, kandidierte Martina Moosbrugger als eine der wenigen Frauen bei der Landtagswahl im Frühjahr 1919 für die „Deutsche Volkspartei“. Bereits die von ihrem Vater in den 1860er-Jahren mit Felder gegründete „Vorarlberger Partei der Gleichberechtigung“ hatte neben sozialen und demokratischen Eckpunkten ein Bekenntnis zum Deutschtum enthalten. In dieser Tradition stand auch Martina Moosbrugger. In einer Vorwahlveranstaltung forderte sie als Demokratin ihre Parteigenossen auf, „dem Gegner mit Sachlichkeit beizukommen.“ Davon konnte in den politischen Auseinandersetzungen der folgenden Monate aber kaum mehr die Rede sein.

Bereits vor dem Weltkrieg war Martina Moosbrugger als Kämpferin für ihre persönlichen Ansprüche aufgefallen: 1906 war sie probehalber wieder in den öffentlichen Schuldienst aufgenommen und drei Jahre später zur definitiven Lehrerin an der Mädchenvolksschule Dornbirn Hatlerdorf bestellt worden. Am ersten Schultag des Jahres 1911 rutschte sie auf dem glatten Gangboden des Schulhauses so unglücklich aus, dass sie einen doppelten Unterschenkelbruch erlitt. Daraufhin klagte sie die Stadt Dornbirn beziehungsweise deren Versicherung auf Schmerzensgeld und Arztkosten. Nachdem ihre Ansprüche von der ersten und zweiten Instanz abgelehnt worden waren, gab ihr schließlich der Oberste Gerichtshof recht und verurteilte die Versicherung zum eingeklagten Schadensersatz. Keine Vorarlberger Frau war bis dahin einen solchen juristischen Instanzenweg gegangen.

Weniger Glück hatte Martina Moosbrugger mit einer Beschwerde an die Vorarlberger Landesregierung. Sie war 1923 in den Ruhestand getreten. Dabei wurden ihr die zwei Jahre an der privaten Fortbildungsschule nicht für die Pension angerechnet. Aber auch die Regierung lehnte ihr Ansuchen ab. Diese Zurücksetzung saß so tief, dass Moosbrugger gleich nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1938 an die nunmehr neuen Machthaber im Landhaus einen Antrag auf Einrechnung der Privatschuljahre stellte. Auch die Nazis sahen allerdings „keine gesetzliche Grundlage“ zu einer Abänderung des Bescheids von 1923. Der Sachbearbeiter im Landhaus war derselbe geblieben.

Martina Moosbruggers Kampf um finanzielle Ansprüche soll aber nicht den falschen Anschein einer querulanten Person erwecken. Im Gegenteil, von ihren Geschwistern und ihrer unmittelbaren Umgebung wurde sie als fröhliche und humorvolle Frau beschrieben. Bei ihren Schülerinnen war sie eine beliebte Lehrerin. Auch die Schulbehörde wusste um ihre Qualitäten. Ihr soziales Umfeld in Dornbirn bildete der „Deutsche Frauenverein“, in dem sie als langjährige Schriftführerin mit gutsituierten Frauen Umgang hatte.

Am 8. September 1940 „ging die Lehrerin Martina Moosbrugger im 73. Lebensjahre aus einem arbeitsreichen und frohen Leben für immer von uns“, schrieben die Geschwister in die Todesanzeige. Im Nachruf werden ihre „feine Menschlichkeit“, ihr „offenes, gerades Wort“ gerühmt. Die „lebhafte Kinderschar“ habe sie „durch ihre beschwingte Rede in atemlosen Bann“ gezogen. Mehr kann eine gute Lehrperson kaum leisten.

Die in dieser Reihe vorgestellten Biografien beschäftigen sich nicht nur mit individuellen Lebensläufen. Vielmehr geht es um Menschen in und aus Vorarlberg, an deren Schicksalen sich die jeweiligen politischen Rahmenbedingungen, die sozialen Verhältnisse und die kulturellen Gegebenheiten besonders sichtbar spiegeln. Alle beschriebenen Personen haben entweder aktiv und auf unterschiedlichste Art in die Verhältnisse gestaltend eingegriffen oder sind mehr oder weniger Opfer derselben geworden. Alle haben Spuren hinterlassen, auf denen wir Nachgeborene auf die eine oder andere Weise weitergehen. So scheint es nur angemessen, sich ihrer Leistungen und Kämpfe zu erinnern. Meinrad Pichler, Historiker und pensionierter Gymnasialdirektor.