Geschlossener Bodensee
Es ist eine Tragödie – neben vielen anderen tragischen Ereignissen. Die neuesten Verschärfungen in Sachen Corona bringen wieder viele Menschen an den Rand des finanziellen Ruins, sie verhindern unzählige kulturelle Veranstaltungen, sie machen Hunderte Treffen privater oder geschäftlicher Natur über die deutsche Grenze unmöglich. Wir stehen wieder dort, wo wir vor Monaten waren, wir haben wieder Furcht vor dem, was da noch alles kommen mag. Und nicht zuletzt haben wir Angst davor, dass wir selbst oder uns nahestehende Menschen mit dem Virus in direkten Kontakt kommen.
Meine persönliche Tragödie aber besteht auch darin, dass der Bodensee wieder für uns geschlossenes Gebiet ist. Gerade jetzt, wo sich diese Landschaft im Herbst so wunderbar öffnet, wo an den Hängen von Meersburg bis Lindau die Trauben für die neue Ernte gelesen werden, wo das Licht so schön wie sonst nie über dem See steht, gerade jetzt dürfen wir nicht mehr an diesen See und vor allem auch nicht über diesen See. Die Schifffahrt von Bregenz an das deutsche Ufer wurde notgedrungen eingestellt, wir stoßen auch mit dem Fahrrad oder dem Auto bei der Leiblach an die Grenzen, die tatsächlich wieder solche sind. Die schönsten Gedichte zum Bodensee kommen einem in den Sinn, wenn man sich die Stimmungen im Herbst vorstellt. Rainer Maria Rilkes berühmtes Poem, in dem es heißt: „Uferschlösser warten / und schauen durch schwarze Scharten / müd auf den Mittagsee.“ Oder Emanuel von Bodman: „Weithin weht der Glockenklang / von den Türmen nieder, / und der See hallt süß und bang / das Geläute wider …“ Dann natürlich Eduard Mörike: „Gelassen stieg die Nacht ans Land. / lehnt träumend an der Berge Wand; / Ihr Auge sieht die goldne Waage nun / der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn.“ Nicht zuletzt Friedrich Hölderlin, der große Dichter, der immer wieder an den See kam: „Weh mir, wo nehm ich, wenn / es Winter ist, die Blumen, und wo / den Sonnenschein / und Schatten der Erde? / Die Mauern stehn / sprachlos und kalt, im Winde / klirren die Fahnen.“
„Die schönsten Gedichte zum Bodensee kommen einem in den Sinn, wenn man sich die Stimmungen im Herbst vorstellt.“
All diese Stimmungen, zu deren Beschreibung nur die Dichter fähig sind, konnte ich Zeit meines Lebens mitnehmen, wenn ich mit einem der weißen Schiffe über den See gefahren bin. Das ist jetzt vorbei. Und so bin ich glücklich, dass ich wenigstens die vergangenen Tage an schönen Plätzen des deutschen Ufers verbracht habe. Die Erinnerung daran muss halten, bis Corona hinter uns liegt und all die unangenehmen Dinge mit dem Virus – so hoffe ich – verflogen sind.
Walter Fink ist pensionierter Kulturchef des ORF Vorarlberg.
Kommentar