Großartig oder verzichtbar

Begegnungen mit Büchner, Euripides und Marthaler sind noch möglich.
ZÜRICH In der Schiffbau-Box des Schauspielhauses dauert die „Medea*“, welche Leonie Böhm kreiert hat, zwar nur rund eineinviertel Stunden, könnte aber verlustfrei auch in einem Viertelstündchen abgehandelt werden. Dabei geht es durchaus nicht nur darum, dass hier das Personal, wie es etwa die Tragödie von Euripides aufbietet, auf die Titelfigur und einen mitspielenden Musiker eingedampft worden ist. Nein, Böhm serviert einfach zu viel schon immer als positiv abhakbare, sattsam bekannte Trivialpsychologie nach dem Motto steh zu deinen Gefühlen und lass Konflikte zu, biedert sich beim Publikum an und weicht die herbe Kraft des Mythos mit einem leider nur sehr selten erfrischenden Spaßfaktor auf.
Apropos Euripides: Er ist ja in der Tat der Seelen-Experte unter den griechischen Tragödiendichtern – und insofern der modernste unter ihnen. In seiner 431 v. Chr. uraufgeführten „Medea“ hat sich die Titelfigur von einer bedingungslos Liebenden zu einer hasserfüllten Frau gewandelt, die neben der Braut und deren Vater sogar die eigenen Kinder tötet. Dies, nachdem der Ehemann Jason ihr untreu geworden ist. In Zürich nun fächert die Schauspielerin Maja Beckmann in einem scheinkommunikativen Wechselspiel mit uns, dem Publikum, Gefühlsbefindlichkeiten auf.
Poesietrunken-schräger Marthaler
Die jüngste Arbeit des Schweizer Regisseurs Christoph Marthaler spielt in einer Apotheke. Die Regale im Bühnenbild von Duri Bischoff sind gut bestückt. Gegen Ende des Stücks aber fegen die von Sara Kittelmann meist in klinisches Weiß gewandeten fünf Apothekerinnen die Schachteln zu einem Arrangement des Lacrimosa aus Mozarts Requiem auf den Boden. Als seien die Medikamente wertloser Müll. Eine melancholisch getränkte Bild-und-Klang-Metapher für die Vergeblichkeit, unseren Verfall aufzuhalten, ergänzt auch noch von dem etwas Blasphemie-gefährdeten Joke, den einzigen Schauspieler dieser Produktion wie eine Jesus-Figur das Schweizer Apothekenkreuz über die Bühne schleppen zu lassen.
Unter anderem auch ein Verwitterungskünstler, der organisches Material zerfressen und schimmeln ließ, war Marthalers Landsmann Dieter Roth (1930-1998). Um Texte von Roth dreht sich wesentlich die Kreation „Das Weinen (Das Wähnen)“, die bereits für März zur Uraufführung geplant war, von der Coronakrise schockgefroren und nun wieder aufgetaut wurde. Roth ist zwar deutlich bekannter als Objekt- und Aktionskünstler. Seine Text- und Sprachproduktion liebte er selber indes mehr. Die von der Freude an Assoziation und Klangexperiment angetriebenen Suchbewegungen des sprachmächtigen Roth werden lustvoll deklamiert vom Solo bis zur Kammermusik in Silben. Mal wird eine Suite aus Wörtern komponiert, denen je ein Buchstabe abgezwackt ist, mal sinniert, ob Menschenkörper, durch die man hindurchsehen kann, noch Menschenkörper seien. Plötzlich turnt Roth wie ein verbaler Zirkusakrobat ums Wort „Sockel“ herum oder reiht in einem anatomischen Vortrag die „kleinen, harten Scharfen“ der „oberen Großöffnungsinnenhöhle“ vor unserem inneren Auge aneinander.
Sehr frei nach Georg Büchner
Wie bitte? „Leonce und Leonce“? Georg Büchners einziges Lustspiel, zu Recht als Perle der Gattung gerühmt, wird hier von Leonie Böhm zum Sprungbrett genutzt für eine verspielte theatrale Studie über Depression und Fremdbestimmtheit, radikale Selbsterkundung und Selbstakzeptanz. Bei Büchner fliehen vor fremdverordneter Verheiratung ein Prinz und eine Prinzessin – nur um sich, unerkannt, just so zu finden und später maskiert sogar Hochzeit zu feiern. Leonce gibt es hier gleich vier Mal. In Böhms Leonce-Erkundung, die direkt vor dem Lockdown Premiere hatte und nun wieder gezeigt wird, vermischen sich Anteile des melancholisch-poesievernarrten Büchnerschen Müßiggängers mit solchen aus der Biografie der jeweiligen Schauspieler, die auftreten in paradiesvogelhaft-bunten, wunderhübsch-schrägen Kostümen und dazu in Langhaarpracht oder mit rekordverdächtig skurrilen Perücken auf dem Haupt.
Kay Kysela laboriert an einer „Scheiß-Unzufriedenheit“ und graust sich vor seriösen Familienvätern. Daniel Lommatzsch überspielt seine Form von Niedergeschlagenheit mit einem auftrumpfenden Über-Aktionismus. Vincent Basse ist dermaßen verzweifelt, dass er sich lautstark in den Bauch der Mutter zurücksehnt. Und der Musiker Johannes Rieder, der als eine Art „Gott“ auftritt. Am Schluss von Böhms im Trash-Theater-Stil einherkommendem Selbsterkenntnis-Trip wird Kay in ein Zwiebelkostüm gesteckt und dann aus diesem heraus wieder freigeschält. Das Wort „müssen“ soll durch „erleben“ ersetzt werden. Also: Hoffnung keimt doch noch.
Fünf Männer und keine Frau? Keine weiteren Figuren? Böhm bedient sich immer wieder aus dem Originaltext wie aus einem Textsteinbruch und schafft es, bei aller Radikalität ihrer Regie-Satzung doch auch, das Original aus den Fugen und Ritzen ihres Projekttheaters hervorlugen zu lassen.
Das Marthaler-Projekt wird ab 14. Oktober wieder aufgeführt, die weiteren Produktionen sind auf dem Spielplan: schauspielhaus.ch