Er beherrschte die Kunst der indirekten Geste
Die Türglocke schlug an, verstummte für einen Augenblick, um in einem heiseren Krächzen zu enden. Herr Faustini hatte sich lange nicht mehr auf einen Stuhl gestellt und die Klingel mit einem Tropfen Öl von ihrer Heiserkeit befreit. Es wurde wieder einmal Zeit dafür, er würde sich gleich darum kümmern. Erst einmal nachsehen, wer da läutete. Für den Briefträger war es ein wenig spät. Außerdem erwartete Herr Faustini kein Einschreiben. Herr Faustini sah nie durch den Türspion, und als er es doch einmal getan hatte, war er sich vorgekommen wie ein Schnüffler der niedrigsten Art. Also hatte er es nie wieder getan, seinetwegen hätte der Spion an der Tür genauso gut mit einem Kaugummi überklebt werden können. Aber noch war niemand in der allermeistens friedlichen Weltgegend, in der Herrn Faustinis Haus unverrückbar stand, auf die Idee gekommen.
Herr Faustini sah also nicht durch den Spion, ehe er die Haustüre öffnete, er vertraute darauf, daß niemand vor der Türe stand, der ihm Böses antun wollte. Herr Faustini öffnete die Haustüre und sah eine Frau unbestimmten Alters in Begleitung eines halbwüchsigen Jungen, der mit hängenden Schultern und gesenktem Blick dastand, als wäre er eigentlich ganz anderswo.
Frau und Junge verharrten sofür einen langen Augenblick stumm vor Herrn Faustini. Zweifellos hätte Herr Faustini eine der in solchen Situationen üblichen Fragen stellen können, zum Beispiel: Sie wünschen bitte? Herr Faustini spürte aber die Besonderheit dieses Augenblicks, denn wie oft stand eine Frau unbestimmten Alters mit einem Jungen, der seinen Blick gesenkt hielt an seiner Tür und sagte nichts? Herr Faustini stand also stumm da und spürte diesen langen Augenblick im Türstock vibrieren. Es war schon etwas Besonderes, am Leben zu sein; jederzeit konnte ein unerwarteter Gast an der Türe stehen und nichts sagen. Ja, es war etwas Besonderes, das spürte Herr Faustini in diesem Augenblick und er war dankbar, es spüren zu dürfen.
In den Augen der Frau lag ein erwartungsvoller Ausdruck, als sie ihr Schweigen brach.
Eigentlich wollte ich dir sagen, dass du dich gar nicht verändert hast, sagte die Unbekannte, aber du bist älter geworden. Nach einer kurzen Unterbrechung fügte sie hinzu: Steht dir gut.
Herr Faustini hätte vielleicht doch durch den Türspion schauen sollen. Er kannte diese Frau nicht und auch den Jungen nicht, der ihn heimlich aus den Augenwinkeln beobachtete. Herr Faustini erwiderte, sie habe zweifellos recht, er wäre älter geworden, und er hätte noch gerne über den unaufhaltsamen Lauf der Zeit geplaudert, worüber sich mit Unbekannten am besten plaudern ließ, denn wie sollte man über dieses Thema mit jemandem sprechen, den man täglich sah. Täglich sah er eigentlich nur den Kater, und auch der büchste manchmal, besonders nächtens aus, wenn die Katzen im Revier rollig waren. Der Kater hatte keine Zeit für Erörterungen über den unaufhaltsamen Lauf der Zeit, denn entweder war er viel zu beschäftigt mit dem Geschehen in seinem Revier, oder er zelebrierte das Nichtstun, holte sich Herrn Faustinis Streicheleinheiten und verschwand auf dem Sofa. So oder so stand er für ein ernsthaftes Gespräch über den unaufhaltsamen Lauf der Zeit nicht zur Verfügung. Überhaupt wunderte sich Herr Faustini manchmal über die ungeheure Kraft der Ausstrahlung und Würde seines Mitbewohners, mit dem er seit langer Zeit schon in stillem Gespräch war, wobei der Kater auf andere, subtile Weise mit Herrn Faustini kommunizierte. Er beherrschte die Kunst der indirekten Geste, die darin bestand, Herrn Faustini durch einen Blick, ein Schnurren, einen Slalomlauf dazu zu bringen, den Futternapf zu füllen, das Wasser zu erneuern, hinzusitzen, damit der Kater auf seinen Schoß hüpfen und sich kraulen lassen konnte. Die Kunst der indirekten Geste war also nachhaltiger, als es das Geplauder über den unaufhaltsamen Lauf der Zeit je sein konnte.
Doch nicht der Kater stand mit einer indirekten Geste vor Herrn Faustinis Haustüre, sondern eine Unbekannte in Begleitung eines Jungen. Herr Faustini sah in den Augen der Unbekannten ein Anliegen lodern gleich einem kleinen Feuer. Es schien, als habe sie nicht an seiner Türe geläutet, um mit ihm über den unaufhaltsamen Lauf der Zeit zu plaudern.
Du erkennst mich nicht, stimmts, fragte sie mit gekränktem, forderndem Unterton. Der Junge sah zu Boden, er war wohl von der feinfühligen Art.
Herr Faustini spürte am Hinterkopf, wie es sein mußte, wenn jemand einem den Kopf in einen Trichter steckte. Zwar näherte sich die Unbekannte ihm nicht körperlich, doch deutlich spürte er den Trichter in und hinter ihren Wörtern.
Herrn Faustinis Schulter zuckte wie von selbst in Notwehr, sein Mundwinkel wollte es ihr nachtun, was Herr Faustini in ein schräges Lächeln umlenkte, bevor er ein wenig gepresst die Unbekannte bat, ihm ein Stichwort zu geben, dann werde er sich gewiß an ihre Bekanntschaft erinnern.
Tsss, stieß die Unbekannte an seiner Tür hervor, und wieder tsss. Ob er denn wirklich jenen Abend vergessen habe, als sie beide. Die Unbekannte unterbrach sich und fügte, als schöbe ihr jemand eine Scheibe Grapefruit in den Mund, aus verzerrtem Mundwinkel etwas hinzu, was in Herrn Faustinis Ohren klang wie…nüschttt vooor dem Juuungnnnn…
Herr Faustini spürte, wie die Verformung des Mundes der Unbekannten sich an seinem eigenen Mund wiederholte, bis er in Gedanken seiner Zunge Einhalt gebot. Der Junge hielt nach wie vor seinen Blick gesenkt, er schien nicht zu merken, daß von ihm die Rede war.
Möchten Sie vielleicht, sagte Herr Faustini und wies den beiden den Weg ins Haus.
Ja, wir möchten, knirschte die Unbekannte und schob den Jungen an Herrn Faustini vorbei ins Haus. Herr Faustini, der den beiden folgte, sah, wie der Kater um die Ecke flitzte und verschwand. Die Unbekannte drehte sich um und murmelte wie aus einer Ziehharmonika heraus: Muß mit meinem neuen Freund dringend auf Urlaub (tiefes Einatmen)…der Junge kann diesmal nicht (Ausatmen, Luftanhalten)…mit…weil er muß jetzt einmal…(tiefes Einatmen)…seinen Vater kennen…(Ausatmen)…lernen…ist nur natürlich…und so ist’s gut wenn er erst einmal zwei Wochen bei dir…(Einatmen) bleibt…Kennenlernen…und so…(Ausatmen)…wird auch Zeit…
Herr Faustini kratzte sich hinterm Ohr, obgleich es ihn nicht juckte.
Der Junge heißt übrigens…(Einatmen)…Hugo…ich lasse euch dann also einmal allein…mein Neuer wartet (Ausatmen)…es geht gleich los…wir sehen uns also in zwei Wochen…schön brav (Einatmen) …sein…mein Hugolein…ach ja…hier ist Hugos Waschzeug und ein paar Sachen…(Ausatmen)…die er mag…bis bald…und brav sein! Die Unbekannte war aus der Tür, ehe Herr Faustini sich verabschieden konnte.
Zur Person
Wolfgang Hermann
Geboren 1961 in Bregenz
Ausbildung Studium Philosophie und Germanistik
Publikationen u. a. „Abschied ohne Ende“, „Herr Faustini bleibt zu Hause“, „Paris Berlin New York“, „Konstruktion einer Stadt“,
„Das japanische Fährtenbuch“
Preise u. a. Anton-Wildgans-Preis, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis
„Herr Faustini bekommt Besuch“, Wolfgang Hermann, Limbus, 120 Seiten.