Das blasierte Männliche im Visier

Nach dem Lockdown-Jahr gibt das Vorarlberger Landestheater mit Uraufführungen Gas.
Bregenz In anderen Bundesländern wurden die Kulturbudgets aufgestockt, in Vorarlberg wurden sie gekürzt. Ein Unternehmen, das davon besonders betroffen ist, ist das Vorarlberger Landestheater. Rund vier Millionen Euro wendet das Land für die Bühne auf, die von Anfang November letzten Jahres bis zum Start der Modellregion Mitte März geschlossen bleiben musste, nun zwar mit Vollgas fährt, aber immer nur 100 Zuschauer auf den rund 500 Plätzen sitzen haben darf. Nichtsdestotrotz und weil, wie Intendantin Stephanie Gräve betont, als einziges Trostpflaster die Treue der Abonnenten Zuversicht erzeugte, hat man für die kommende Saison einen umfangreichen Spielplan konzipiert. Reden über die Kunst bzw. über die Wirkung von Kunst, lautet das Motto. Gräve: „Jenseits aller Umwegrentabilität geht es darum, dass wir Kunst machen, um uns auch in eine Differenz zur Wirklichkeit zu setzen.“
Nico und The Velvet Underground
Funktionieren soll dieses Vorhaben durch die Auseinandersetzung mit Stücken wie dem antiken Klassiker „König Ödipus“ von Sophokles, der uns zum Hinterfragen inspirieren soll, ob wir nicht alle wie Ödipus – also blind – auf die Geschehnisse der Gegenwart blicken. Mit „All you can be! Eurydike und Orpheus“, einer Uraufführung von Max Merker und Aaron Hitz, wird die Thematik fortgeführt. Wer den Stoff kennt, der weiß, dass am Beispiel der Figur des Orfeo die Kraft der Kunst selbst zur Debatte steht. In dieser Hinsicht geht es weiter mit „Wir reden über Polke, das sieht man doch!“. Der Name des deutschen Künstlers Sigmar Polke (1941-2010) steht als Beispiel über dem Themenkomplex Kunst, Beziehung zwischen Künstler und Gesellschaft etc. Gerhard Meister schreibt den Text zu dieser zweiten Uraufführung der Saison. Die dritte weitet den Kreis der künstlerischen Betrachtung etwas aus. Kennern der Rockband The Velvet Underground ist auch die Sängerin und Songschreiberin Nico ein Begriff. Mit bürgerlichem Namen Christa Päffgen (1938-1988) und aus Deutschland stammend, hat sie maßgeblich in der Musik- und Kunstszene um Andy Warhol und seiner Factory, um Lou Reed, Leonard Cohen oder Bob Dylan mitgemischt. Niklas Ritter macht sich auf die Spuren der Künstlerin, die viel geschaffen und viele inspiriert hatte, deren Name aber nicht so weit vorne steht, weil wir es im Kunst- und vor allem im Musikbusiness zwar nicht mehr derart ausgeprägt wie zu Nicos Zeiten, aber leider immer noch mit männlicher Überheblichkeit und Blasiertheit zu tun haben.
Kooperation mit Aktionstheater
Die vierte Uraufführung bezieht sich auf eine Kooperation mit dem Aktionstheater von Martin Gruber. Das Stück, das nächstes Frühjahr Premiere hat, wird somit nicht nur in Kooperation mit dem Festival Bregenzer Frühling, sondern auch in Zusammenarbeit mit dem Vorarlberger Landestheater produziert. Dass Gruber jeweils ein gesellschaftspolitisches Thema erarbeitet, ist festgeschrieben, wie die spezielle Sprache und Ästhetik des preisgekrönten Ensembles auf der Guckkastenbühne des Bregenzer Kornmarktes wirkt, wird zusätzlich spannend.
Ein weiterer, moderner Klassiker, der die Antikenthematik ergänzt, ist „Herkules und der Stall des Augias“ von Friedrich Dürrenmatt. Mit der Komödie „Leonce und Lena“ auf der großen Bühne und mit der Bearbeitung des Fragments „Lenz“ in der Box wird die Büchner-Reihe fortgesetzt, die so stark im vergangenen Herbst mit der „Woyzeck“-Bearbeitung von Waits, Brennan und Wilson begonnen hatte.
Mit „Else (ohne Fräulein)“, einem Drama von Thomas Arzt nach Arthur Schnitzler, wird die Box bespielt, wo man sich auch mit „Wutschweiger“, einer Wohlstandskritik von Jan Sobrie und Raven Ruell, vor allem dem jüngeren Publikum zuwendet.
„Maria Stuarda“ nach „Jephtha“
Zwei große Produktionen konnten in der laufenden Spielzeit zwar produziert, aber wegen der pandemiebedingten Aufführungsverbote nie gezeigt werden: Mit „Pünktchen und Anton“ nach Erich Kästner wird der traditionelle Familienstücktermin vor Weihnachten eingehalten, das szenische Oratorium „Jephtha“ von Georg Friedrich Händel – ein echter Schatz, wie man sich bei der für Journalisten geöffneten Generalprobe überzeugen konnte – wird im nächsten Frühjahr gezeigt. Weil es aufgrund dieser Premierenverschiebung sonst nichts Neues anzukünden gäbe, hat Sebastian Hazod, Geschäftsführer des Symphonieorchesters Vorarlberg, offenbart, dass im Jahr 2023 mit Donizettis „Maria Stuarda“ die Zusammenarbeit des SOV mit dem Landestheater weitergeführt wird.
Man widmet sich nach dem Barock somit dem Belcanto und will die erst jüngst wieder aufgeploppten finanziellen Probleme, die eine große Musiktheaterproduktion mit sich bringt, bis dahin offenbar gelöst haben. VN-cd
„Beim Blick auf die Welt sind wir alle ein Ödipus und nicht bereit, das Elend zu sehen.“

Spielplan 2021/2022
Großes Haus
König Ödipus Sophokles
All you can be! Eurydike und Orpheus Max Merker & Aaron Hitz, Uraufführung, Koproduktion mit dem TOBS Theater, Orchester Biel Solothurn
King Size Christoph Marthaler, Gastspiel
Wir reden über Polke, das sieht man doch! Gerhard Meister, Uraufführung
Pünktchen und Anton Erich Kästner, Familienstück
Herkules und der Stall des Augias Friedrich Dürrenmatt, Koproduktion mit dem Theater Marie
Leonce und Lena Georg Büchner
Jephtha Georg Friedrich Händel, in Kooperation mit dem Symphonieorchester Vorarlberg
To all tomorrow’s parties Niklas Ritter, Uraufführung
Arbeitstitel Martin Gruber, Uraufführung
Abfall Bergland Cäsar Werner Schwab
Box
Else (ohne Fräulein) Thomas Arzt
Lenz Georg Büchner
Wutschweiger Jan Sobrie & Raven Ruëll
Mit „Alle meine Söhne“ von Arthur Miller wird am 12. Mai die intensive Premierenreihe seit der Wiederöffnung des Landestheaters nach dem Lockdown fortgesetzt.