Sie sollen sich wehren!

Kultur / 03.07.2021 • 11:00 Uhr

Was haben wir ihnen nicht alles abverlangt! Zuerst sollten sie uns, die Alten, schützen, sie sollten uns helfen, damit wir nicht hinaus in die Pandemiezonen mussten. Dann haben wir uns impfen lassen, zuerst die ganz Alten, dann die Alten, und die Jungen mussten immer zuwarten, so lange, bis sie selbst im Seuchenbett gebeutelt wurden. Wir waren längst auf der sicheren Seite, als die Jugend noch lange auf ihre Impfung warten musste.

„Ich würde mir wünschen, dass die Jungen Rabatz machen, dass sie sich gegen die Verbote stellen.“

Was haben wir ihnen alles gestohlen? Mehr als ein Jahr ihrer Jugend, wir haben ihnen Freude und Freunde genommen, wir haben ihre Ausbildung missachtet und sie alleine vor dem Laptop lernen lassen, wir haben ihnen ihre Abschlussfeiern in Schule oder Lehre verboten, wir hinderten sie an sozialen Kontakten, an Treffen mit ihren Freundinnen und Freunden, wir haben Schulen und Universitäten gesperrt, haben all das, was das Leben für die Jungen ausmacht, verunmöglicht, damit wir möglichst gesund bleiben.

Und dann brach der Damm. Etwas Freiheit wurde erlaubt – und die jungen Menschen kamen an den Bodensee, an die Pipeline, tranken ein Bier oder auch mehrere, ließen laut Musik laufen und tanzten in den Abend. Sie machten einfach „mehr am See“ und taten all das, was wir in unserer Jugend auch getan haben. Nur taten sie es nach einer langen Zeit des Darbens, sie taten es in Freude einer wiedergewonnenen Freiheit. Und was taten wir, was tat die alte Obrigkeit? Wir schickten ganze Truppen von Polizisten, wir sprachen Verbote aus: kein Alkohol mehr am See, keine Boxen mehr für Musik. Wir hatten nichts Besseres zu tun als unser Innenminister. Karl Nehammer spazierte nämlich mit seiner Frau im Wiener Stadtpark, traf dort auf feiernde Jugendliche, und es fiel ihm nichts anderes ein, als gleich einmal den Polizeiapparat auf sie zu hetzen. Fazit der Polizei: „Ausgelassene, aber problemlose Stimmung.“

Seit dem Verbot herrscht an der Pipeline Ruhe. Ich verstehe das nicht. Warum lassen sich die Jungen das gefallen? Erst werden sie nur bevormundet, wird ihnen alles genommen, was ihr Leben ausmacht, und dann geben sie bei Widerstand der Obrigkeit klein bei. Ich würde mir wünschen, dass die Jungen Rabatz machen, dass sie sich gegen die Verbote stellen, dass sie – Polizei hin, Bürgermeister her – weiter ihr Bier am See trinken und ihre Musik hören. Jugend muss sich ausleben und an den Alten abarbeiten, sonst wird nichts aus ihnen. Sie sollen sich wehren – nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass wenige Tage später 100.000 Menschen bei einem Autorennen in der Steiermark oder einen Monat später jeden Abend 7.000 Menschen bei den Festspielen feiern dürfen. Mit Alkohol.

Walter Fink ist pensionierter Kulturchef des ORF Vorarlberg.