Abrissbirne oder Diskussion: In Hohenems stellen sich wichtige Fragen

Mit “Am Rand” beleuchtet das Jüdische Museum ein Viertel von Hohenems und ein Thema, das alle etwas angeht.
Hohenems Einem einst gerade noch rechtzeitig eingeleiteten Nachdenkprozess ist es zu verdanken, dass es die schöne Villa Heimann-Rosenthal überhaupt noch gibt. Dort, wo nach deren Sanierung nun seit den frühen 1990er-Jahren das Jüdische Museum in Hohenems als regionale und international etablierte Institution untergebracht ist, sollte es laut Plänen aus den 1970er-Jahren überhaupt keine alte Bausubstanz mehr geben. Auch die Marktgasse, die von Häusern gesäumt ist, deren Kern oft mehrere Jahrhunderte zurückreicht, sollte einmal völlig anders aussehen.

Wenn das Jüdische Museum nun unter dem Titel “Am Rand. Zusammenleben in der Untergass'” ein umfangreiches Ausstellungsprojekt konzipiert hat, das nicht international ausgerichtet ist, sondern Geschichte und Gegenwart vor Ort thematisiert, dann geht es darum, eine aktuelle Entwicklung öffentlich zu begleiten, eine Diskussionsplattform zu bieten und Informationen zu liefern, die auf Forschungen und Interviews basieren, die das Museum getätigt hat.
Wachsendes Zentrum
Im Fokus steht dabei die Radetzkystraße, also ein Bereich, der noch außerhalb des Stadtzentrums auf der Ausfahrt in Richtung Dornbirn liegt, der aber eng mit der Geschichte der Hohenemser Juden verknüpft ist. Um 1806 (unter bayerischer Herrschaft) konnten Mitglieder der jüdischen Gemeinde auch dort Grund und Häuser erwerben oder welche bauen. Es waren meist einfache Händler oder auch Hausierer. So erwarb der Schankwirt und Hausierer Leopold Levi zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Haus in der Untergasse 59 (heute Radetzkystraße 30). Einer der Söhne spezialisierte sich auf das Uhrmachergewerbe, man reiste, um Waren zu verkaufen, einige der Enkel wanderten in die Vereinigten Staaten aus. Wann immer die Familie in Geldnot war, wurde ein Anteil am Haus verkauft und von weiteren Familienmitgliedern oft wieder zurückgekauft. Nicht immer lassen sich die Geschichten bis herauf ins 20. Jahrhundert, bis zur Vertreibung und Enteignung in der Zeit der Nationalsozialisten verfolgen, aber sie sind komplex, werden den Ausstellungsbesuchern vermittelt und machen das frühere Leben und Zusammenleben erfahrbar.

Daraus ergeben sich Parallelen zum Projekt “Ein Viertel Stadt”, das Mitte der 1990er-Jahre umgesetzt wurde, auf die Historie vieler der damals noch baufälligen Häuser verwies und Stadtplanungsprozesse entscheidend beeinflusste. “Die Beobachtung, dass sich in der Radetzkystraße etwas tut und die Frage, ob sich das Museum nicht einmal mit dem anderen jüdischen Viertel befassen sollte”, hat, so Kuratorin Anika Reichwald, zum Ausstellungsprojekt geführt. Museumsdirektor Hanno Loewy verweist darauf, dass in dem Moment, in dem die Gentrifizierung beginnt, zentrale Fragen im Raum stehen. Beispiele in vielen Stadtzentren zeigen, welche weitreichenden Probleme entstehen, wenn die ansässige Bevölkerung nach und nach von jenen Wohlhabenden verdrängt wird, die sich die sanierten und dadurch oft sehr teuer gewordenen Wohnungen und Häuser überhaupt noch leisten können. Auch im Land habe die Politik diese Themen lange verschlafen.

Die alten Häuser in der ehemaligen Untergasse stehen nicht unter Denkmalschutz. Einige sind definitiv vom Abriss bedroht. Das Museumsteam, zu dem neben dem Designer Roland Stecher auch der Fotograf Dietmar Walser zählt, der zu unterschiedlichen Jahres- und Tageszeiten Aufnahmen gemacht hat, wünsche sich, dass sie stehen bleiben, die Entscheidung müssten aber die Bürger und die Politik treffen, sagt Hanno Loewy. Ein Projekt mit einem umfangreichen Rahmenprogramm und einer im Museum nachgebauten Untergasse mit der Darstellung der Geschichte sowie dokumentierten Schilderungen und Erinnerungen jetziger Bewohner bietet eine spannende Erzählung über einen lebendigen Organismus, der seine DNA nicht verlieren sollte, auch wenn es notwendig ist, dass sich Zellen erneuern. Die “Untergass'” ist somit nicht nur ein Hohenemser Thema.
„Wenn Gentrifizierung beginnt, stehen Fragen im Raum, die die Politik lange verschlafen hat.“
Hanno Loewy, Museumsdirektor

Die Ausstellung wird am 17. Oktober, 11 Uhr im Salomon Sulzer Saal eröffnet und ist bis 18. April 2022 im Jüdischen Museum in Hohenems zu sehen.