Was die Erinnerung zum Blühen bringt

Kultur / 03.12.2021 • 17:04 Uhr
Mein Proust-MomentHg. von Anton Thuswaldner, Müry Salzmann Verlag, 144 Seiten

Mein Proust-Moment

Hg. von Anton Thuswaldner, Müry Salzmann Verlag, 144 Seiten

Anton Thuswaldner lässt alle Proust werden.

ESSAY Jeder ist ein Künstler, jeder ist ein Philosoph, so hört man es immer wieder und nicht ungern. Jeder? Jede? Also erstens jeder und jede, die das sein will; und, zweitens, der oder die sich ein bisschen darum bemüht. Bemüht? Ganz ohne guten Willen wird es nicht gehen, soll es gar nicht. Bemüht zu sein ums Wahrnehmen könnte irgendwie durchaus genügen fürs Künstlersein – für den Anfang wenigstens –; und richtig zu- und gründlich hinhören für den Start ins philosophische Dasein. Aber die Prousterei? Genügt es schon, ein Stück Kuchen in heißen Lindenblütentee zu tunken und verträumt zu schlucken, damit eine ganze bislang versunkene Welt aus der Erinnerung auftaucht und einer zum Proust und eine zur Proustin werde? Nicht ganz, oder besser: womöglich! Zum Glück gibt es noch andere Wege, auf denen vergangenes Glück zum gegenwärtigen gemacht werden kann. Davon erzählt auf berückend-berührende Weise ein kleines Büchlein aus dem Müry Salzmann Verlag. Es können ja nicht immer gleich 5000 Seiten sein.

Die berühmte Madeleine im Tee, aus der in Marcel Prousts (1871–1922) Romanepos „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ eine ganze Stadt aufersteht, ist kein Patentrezept. Jeder und jede hat ihre eigene Weise, Proust zu werden. 14 solcher Möglichkeiten präsentiert der Herausgeber Anton Thuswaldner, 14 Zugänge von Autorinnen und Autoren, die erzählen, was ihre Erinnerung zum Blühen bringt. Das kann ein Duft sein oder ein Geschmack, aber auch Musik, wie im Fall von Peter Kümmel, Theaterkritiker der „Zeit“, konkret „Thick as a Brick“ von Jethro Tull, samt einer dazugehörigen wilden Geschichte.

Punktgenau Proust

Eine grundlegende Voraussetzung des Erinnerns ist das Vergessen. Mit Staunen und Verwunderung liest man bei Anna Kim, dass sogar ein Vater in Vergessenheit geraten kann. Da braucht es dann schon einen starken Geruch, um die Erinnerung an ihn wachzurufen: In Kims Fall ist es der Geruch eines ganzen Landes. Noch etwas bringt Anna Kim, Prousts Fußstapfen folgend, auf den Punkt: Die Erinnerung ist selbstständig, Proust nennt sie unwillkürlich. Mit dem Verstand ist ihr nicht beizukommen. Ihr Ziel besteht darin, „eine vergangene Version von mir“ (Anna Kim) wiederherzustellen. „Die größere Genauigkeit, das ist Proust“, schreibt Martin Walser. Es geht nicht darum, nichts zu vergessen, Gott behüte; aber darum, der Erinnerung, und das heißt nichts anderes als: dem Glück, nicht im Weg zu stehen. Wer sich der Erinnerung überlässt, nähert sich der Wahrheit. So viel kann auch ein schmales Büchlein überzeugend darstellen. Weil Weihnachten ein Fest der Düfte und Gerüche ist, vom Tannenreisig bis zum Festtagsbraten, bietet es viele schöne Gelegenheiten, Proust zu werden, lesend, erinnernd, glücklich. PEN