Mit Händen und Füßen pfeilgerade ins Herz

Längst fällige Retrospektive im Dock 20 offenbart das Spätwerk von Gesine Probst-Bösch.
lustenau Auf hellem Grund bombardieren zehn grüne Pfeil- und Dreiecksformen eine abstrahierte Herzform, daneben schwebt eine kleinere, dunkle Form, die sich über den Bildtitel als Seele zu erkennen gibt: Die 1993 entstandene Mischtechnik „Zehn Pfeile, ein Herz und eine Seele“ stammt von Gesine Probst-Bösch (1944–1994) und leiht der Ausstellung der Künstlerin im Dock 20 in Lustenau mehr als nur ihren Titel. 200 Werke sind in der ersten großen Retrospektive zu Gesine Probst-Bösch zu sehen. Kuratiert wurde die Schau, die das ungemein dichte Schaffen der letzten Lebensjahre und dessen rapide Entwicklung in einer ebenso hermetischen Präsentation fokussiert, von Claudia Voit und Kathrin Dünser in Kooperation mit dem Vorarlberg Museum. Obschon das Museum bereits früh erste Ankäufe tätigte und heute über 20 Arbeiten aus allen Werkphasen besitzt, leuchtete das singuläre Werk der Künstlerin, die sich neben dem Bild als erfolgreiche, mehrfach ausgezeichnete Autorin auch der Literatur verschrieben hatte, am Vorarlberger Kunsthimmel nur punktuell auf. Ihr Werk wurde bislang nur in Ansätzen rezipiert und harrte lange Jahre seiner Aufarbeitung.
Die längst fällige, von einer umfangreichen Publikation begleitete Retrospektive ist der engagierten Kuratoren-Arbeit am Dock 20 zu verdanken, wo man sich nach den Ausstellungen von Anna Oppermann (2017) und Anne Marie Jehle (2019) mit erheblichem Rechercheaufwand in der Schau von Probst-Bösch einer weiteren, im zeitgenössischen Kunstkontext relevanten, aber bislang zu wenig beachteten weiblichen Position widmet.
Gesichter
Wie eng Leben und Kunst bei Gesine Probst ineinander verzahnt sind, ja geradezu eine Chronologie bilden, die in der Schau gut nachvollziehbar wird, wird in der Beschäftigung mit Person und Werk rasch klar. Geboren 1944 in Weimar, verlässt Gesine das Elternhaus bereits mit 17 Jahren, macht in Berlin eine Schneiderlehre und beginnt ein Kostümbildnerei-Studium, bevor sie 1967 nach Wien übersiedelt um an der Akademie Malerei zu studieren. Dort lernt sie den Vorarlberger Maler Richard Bösch kennen, heiratet ihn und zieht mit ihm nach Hörbranz. In den 1970ern werden die beiden Kinder, Florian und Barbara, geboren, Gesine tritt künstlerisch kaum in Erscheinung, wendet sich aber erfolgreich der Literatur zu, schreibt Gedichte und Prosa, verfasst Hörspiele und wird 1981 mit dem österreichischen Staatsstipendium für Literatur bedacht. Nach einem Suizidversuch und bedingt durch den folgenden stationären Aufenthalt im Landeskrankenhaus Rankweil beginnt die Künstlerin wieder zu zeichnen, porträtiert mit lockerem Strich und wenigen Linien wie besessen die Gesichter ihrer Mitpatient:innen. Die Blätter veröffentlicht sie 1988 in einem Buch, alles scheint gut, doch das kommende Jahr bringt eine folgenreiche Zäsur: die Trennung von Richard Bösch und den Umzug nach München.
Eigenständiger Ausdruck
Genau an diesem Punkt setzt die Ausstellung ein, denn in diesen kurzen, aber ungemein produktiven Jahren bis zum Freitod der Künstlerin 1994, ist ein Konvolut von 600 Blättern entstanden. Dieser im Besitz der Familie befindliche Nachlass erzählt vom zähen Kampf um Eigenständigkeit im Ausdruck, der Probst-Bösch zeitlebens in ihren beiden Disziplinen, Kunst und Literatur, begleitet hat. Auch inhaltlich beschäftigen sie die gleichen Themen: Verletzlichkeit und Verletzung, Abspaltung, Fragen der Autonomie, die (suchende) Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt. In der präzisen Wiedergabe von Beobachtungen legt die Künstlerin den Kern der Dinge frei, lässt aber stets Raum für Unschärfe und Mehrdeutigkeiten. Pfeile, Herzen, der (weibliche) Körper als Gefäß, ein zu Hilfsobjekten wie Leiter oder Stuhl mutierendes Rückengrat, vor allem aber Hände und Füße, die festhalten, ertasten, die Verbindung zur Umwelt bilden, zählen zu den wiederkehrenden Sujets. Nach ihrer Australienreise 1993 dominiert zunächst Farbe die anthropomorphen, stärker malerischen Figur- und Kopfmotive, doch die Aufbruchsstimmung verkehrt sich im Jahr darauf in totale Reduktion. Der Blick der Künstlerin wendet sich nach Innen und in die Vergangenheit, Schwarz und Weiß sind plötzlich ihre Farben. In dieser Verdunkelung hat sie ihrem Leben ein Ende gesetzt. Auf einem Blatt Papier hat sie in jener Nacht mit Bleistift notiert: „Und das das Leben!“ Ihr lebenslanges Ringen um das Leben und die Kunst in der ihr eigenen Empfindsamkeit und zugleich ungeschönter Härte wird in dieser großartig dichten, wunderbar berührenden Schau eindrücklich aufgezeigt und trifft pfeilgenau in Herz und Seele.


Die Ausstellung ist im Dock 20, Pontenstraße 20, in Lustenau, noch vom 2. Januar bis 7. Februar zu sehen, geöffnet Fr, Sa, So und Feiertage von 15 bis 19 Uhr.