Despotismus und Nationalismus

Kultur / 04.03.2022 • 17:21 Uhr
Despotismus und Nationalismus

“Die Nächte der Pest” von Orhan Pamuk ist eine Parabel auf politische Verhältnisse.

Roman Die zwischen Rhodos und Kreta gelegene und zum Osmanischen Reich gehörende Insel Minger gilt mitsamt ihrer Hauptstadt Arkaz als “Perle des östlichen Mittelmeers”, deren Pracht schon von Homer besungen wurde. Orthodoxe Christen und Muslime, Griechen und Osmanen leben hier friedlich – wenn vielleicht nicht immer miteinander, so doch nebeneinander. Allerdings treten Unfähigkeit, Korruption und Ignoranz örtlicher Würdenträger, alter Aberglaube im Widerstreit gegen moderne Wissenschaft sowie unterschwellige religiöse und nationale Spannungen zu Tage. Und vor allem eine Krankheit, die sich rasant ausbreitet, deren wirksame Bekämpfung jedoch in den entscheidenden Tagen durch Opportunismus und Entscheidungsschwäche verhindert wird. Minger wird von der Pest heimgesucht.

Doch so minutiös und akribisch Pamuk die Vorgänge in der Quarantänekommission und am Hof des Gouverneurs auch schildert, es geht ihm weniger um die gesundheitlichen als um die politischen Verheerungen, die in Gang kommen. Bis jedoch Aufruhr herrscht, eine von den Großmächten exekutierte Blockade über die Insel verhängt wird, die Revolution ausbricht und die Insel ihre Unabhängigkeit erklärt, gibt es viele Tote. “Die Nächte der Pest” erzählt nicht nur vom Ende des Kolonialismus und vom Zerfall des Osmanischen Reiches, sondern von einer Staatengründung, von der Neuerfindung einer Nation, inklusive der Etablierung einer nationalen Geschichte.

“Die Nächte der Pest”, Orhan Pamuk, Hanser Verlag, 696 Seiten.