Ein Klavierabend im XXL-Format

Kultur / 20.03.2022 • 18:25 Uhr
Starpianist Igor Levit im Bregenzer Festspielhaus. mittelberger
Starpianist Igor Levit im Bregenzer Festspielhaus. mittelberger

Mit der „Passacaglia on DSCH“ sprengte Igor Levit beim Meisterkonzert alle herkömmlichen Grenzen des Genres.

BREGENZ Es war ein anstrengender, letztlich auch aufregender Abend für das zahlreiche Publikum dieses Meisterkonzertes im Festspielhaus, besonders aber für dessen Interpreten, den deutsch-russischen Pianisten Igor Levit als weltweit führenden Pianisten seiner Generation. Es war ein Klavierabend im XXL-Format, nach dem eigentlich die Geschichte dieses Genre neu geschrieben werden sollte. Denn es ging um nichts weniger als ein grandioses neueres Klavierwerk, das auch bekannte Klavierkolosse im Konzertsaal wie Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ oder Beethovens „Diabelli-Variationen“ punkto Schwierigkeitsgrad glatt in den Schatten stellte.

Die großformatige „Passacaglia on DSCH“ schrieb der wenig bekannte schottische Komponist und Pianist Ronald Stevenson (1928-2015) in eineinhalb Jahren von 1960 bis 1962 neben über 500 anderen Werken. Es ist eine Reverenz von extremen Ausmaßen an den von ihm verehrten Russen Dmitri Schostakowitsch, der lebenslang politischen Repressalien ausgesetzt war. Die Initialen von Schostakowitsch, die Töne D-Es-C-H, bilden das musikalische Grundmaterial, das nicht weniger als sechshundert Wiederholungen in unzähligen Gestalten, Rhythmen, Tempi und Stilen erfährt. Stevenson verwendet dafür in kompositorischer Raffinesse unterschiedliche Genres der Musikgeschichte und vielerlei musikalischen Stilrichtungen. Die rund 60 Jahre zurückliegende Entstehungszeit lässt dieses epochale Werk in seiner spröden, schwer fasslichen Klangsprache freilich auch seltsam zwiespältig erscheinen. Es atmet, oft überladen und schwülstig, einerseits den Mief der Sechziger mit barocken Tänzen und der romantisch verklärten Weltraumfahrt des Russen Juri Gagarin, ist aber andererseits auch ein hoch gesellschaftspolitisches und bedrohliches Werk, das kriegerische Handlungen, Schmerz und Tod wie im finalen „Dies Irae“ gerade in unseren Tagen hautnah und beklemmend erlebbar macht.

Man kennt Igor Levit, den genialen Genzgänger, hier seit Jahren von legendären Auftritten bei der Schubertiade, wo er etwa mit seinen revolutionär neuen Einsichten in den Zyklus der 32 Klaviersonaten Beethovens die Fachwelt in Staunen versetzte. Während Bettina Barnay in ihrer Einführung dessen schillernde Künstlerpersönlichkeit erschließt, gesteht dieser gleich zu Beginn dem Publikum die Unmöglichkeit des Unterfangens ein, selbst nach jahrelanger Einstudierungsphase, mehreren Konzerten und einer CD-Einspielung diese Komposition in ihrer detailreichen Vielschichtigkeit auch nur annähernd wie geplant erklären zu können. Sein Kernsatz ist erhellend genug: „Das Werk passt auf schmerzhafte Weise in die Zeit, in der wir leben.“ Und: Noch nie habe ihn ein Stück so mitgenommen wie dieses, durchaus im positiven Sinn gemeint. So stürzt sich Levit dann diesem pianistischen Gipfelwerk mit seinem vollgriffigen Klaviersatz in die Arme, bewaffnet mit fabelhafter Technik und höchster Virtuosität. Der berühmte Klavierdonner wird bei ihm zum Gewitter, er entfacht unglaubliche Klangkaskaden, rasende Läufe, Cluster, Steigerungen, messerscharf artikulierte Fugen, alles in einem fast trotzigen Aufbegehren, das oft auch zur zärtlichen Umarmung wird, 85 Minuten lang, in höchster Konzentration, ohne Pause. Und ohne Anschein einer Erschöpfung.

Ans Limit gegangen

Levit dirigiert oft mit einer freien Hand oder greift für besondere Effekte in die Eingeweide des Instruments, geht dabei auch ungeniert ans Äußerste an Kraftentfaltung und Dynamik, was mit der Zeit selbst dem stabilen Steinway zu viel wird. Er reagiert am Schluss leicht verstimmt. Die fast übermenschlichen physischen und psychischen Anforderungen dieses genialen Variationenwerks an den Interpreten sind ohne Beispiel in der gesamten Literatur und absolut kompromisslos. Die Großartigkeit des geschaffenen Gesamteindrucks, die gewaltige formale Architektur der Anlage und die Genialität des Pianisten lassen einen in schlichter Bewunderung einfach verstummen. Nach einer eineinhalbstündigen Tour de Force steht Igor Levit als Sieger fest, wird herzlich gefeiert, etwa die Hälfte des Hauses entschließt sich sogar zu Standing Ovations. Er nimmt die Huldigungen in dem Bewusstsein entgegen, dem Bregenzer Publikum einen unbequemen, aber unvergesslichen Abend beschert zu haben.

Nächstes Meisterkonzert: 29. März, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Vladimir Jurowski, Solistin: Julia Fischer, Violine (Prokofjew, Schostakowitsch, Rachmaninoff)