Der Mensch ist ein Superraubtier

Wu Tsang erzählt den Roman „Moby- Dick“ als Stummfilm.
ZÜRICH Seit 1986 gilt, außer für einige indigene Völker, ein Fang-Moratorium für den Wal. Es wird aktuell zwar teilweise noch immer umgangen. Einspruch erhoben hat Norwegen, das etwa für 2022 eine Fangquote von immerhin 917 Zwergwalen erlaubt. Dem größten lebenden Säugetier unseres Planeten droht heute mehrheitlich freilich eine lange Liste anderer Gefahren. Die mindestens 7000 Jahre lange blutige Geschichte des Walfangs ist allerdings schon beschämend genug.
Unter den literarischen Verarbeitungen des Walfangs ist der 1851 veröffentlichte Roman „Moby Dick“ die berühmteste. In dem über 900-seitigen Wälzer schildert der US-amerikanische Autor Herman Melville, wie Kapitän Ahab einen riesigen Albino-Pottwal umbringen will – denselben auf den Namen „Moby Dick“ getauften Meeresgiganten, der ihm Jahre zuvor ein Bein abgebissen hat. Die Rache-Mission scheitert. Einziger Überlebender ist der Matrose – und Ich-Erzähler – Ishmael. Dabei geht es um vieles mehr in dem enzyklopädischen Werk, das wissenschaftliche Ausführungen, weitere Essays und Abhandlungen sowie dramatische Szenen samt Regieanweisungen enthält.
Film im Theater mit Musik
Die Filmemacherin und Performance-Künstlerin Wu Tsang, geboren 1982 in den USA, hat nun „Moby Dick“ als Stummfilm frei adaptiert. Die Produktion des Schauspielhauses Zürich, wo Wu Tsang seit 2019 als Hausregisseurin wirkt, ist soeben im Pfauen mit Live-Orchesterbegleitung uraufgeführt worden. Das „Dazwischen“ beziehungsweise das Sowohl-als-auch ist wichtig für die Künstlerin. Weshalb also nicht „Moby Dick“ als Film im Theater mit Musik?
Die künstlerische Bilanz fällt durchwachsen, aber doch mehrheitlich positiv aus. Es mag zunächst befremden, dass ausgerechnet ein Werk, das berühmt geworden ist für seine erfindungsreichen sprachlichen Mittel, stumm gemimt wird. Aber zusätzlich zur Musik und zu vorproduzierten Klangzuspielungen gibt es doch auch Wortkommentare und Reflexionen, wobei Sophia Al Maria als Autorin und Wu Tsang in ihrer Arbeit die Figur des „Unter-Unter-Bibliothekars“ (Fred Moten) bei Melville genutzt haben. Und die Erzeugung surrealer Meeresumgebungen in virtueller Realität mithilfe eines besonderen Entwurfsmusters für Computerspiele schafft tatsächlich erstaunliche Resultate, die uns in maritime Abenteuer gleichsam hineinsaugt.
Sebastian Rudolph in der Rolle des Ahab, Thomas Wodianka als Ishmael und die weiteren Darsteller spielen mit durchaus an den expressionistischen Stummfilm gemahnenden suggestiven mimischen Vergrößerungen und Stechblicken, und die Kameraführung ist raffiniert geraten. Machtverhältnisse werden in den Blick genommen, und die Brutalität des Walfangs kommt entsprechend herüber. Weitere Themen aber werden mitunter nicht deutlich genug entwickelt, und zudem stört ein raunender, gelegentlich zum Pathos anschwellender Ton. Das Ganze stützen kräftig die sehr variantenreich gesetzten Streicherklänge des Zürcher Kammerorchesters, das vor der Leinwand musiziert und an der Premiere von Anthony Gabriele dirigiert wurde (danach folgt Kevin Griffiths).
Weitere Vorstellungen am 5., 6., 28., 29. April: www.schauspielhaus.ch