Einem Werk weitere Dimension verliehen

Kultur / 22.07.2022 • 18:07 Uhr
Erzählt wird in der 1903 uraufgeführten Oper „Sibirien“ auch eine Liebesgeschichte mit einem Störfaktor, einem Kuppler. Die Bregenzer Produktion kommt ans Theater Bonn.
Erzählt wird in der 1903 uraufgeführten Oper „Sibirien“ auch eine Liebesgeschichte mit einem Störfaktor, einem Kuppler. Die Bregenzer Produktion kommt ans Theater Bonn.

Giordanos Musik zu „Sibirien“ entspricht Erwartungen, das Inszenierungskonzept für die Oper ist das Wesentliche.

Bregenz Eine kurze Szene in der Oper „Siberia“ von Umberto Giordano wird zum entscheidenden Moment. Fast lässt sich sagen, dass der Blick darauf sowie die Idee, die sich daraus entwickelt, das kaum bekannte Werk interessant machten. Sie spielt auf dem Weg nach Sibirien. Ein Mädchen erklärt einem Kosaken, dass der Vater unter den Zwangsarbeitern sei. Mit ihrem Bruder habe sie einen langen Weg zurückgelegt, um ihn zu sehen. Aus diesem kurzen Gespräch heraus entwickelt Vasily Barkhatov ein Inszenierungskonzept für die Produktion der Oper bei den Bregenzer Festspielen, die diese mit dem eingedeutschten Titel „Sibirien“ in das Programm genommen haben. Es ermöglicht ihm viel.

Politisch konnotiert

Einmal geht es um die politische Konnotation der Geschichte einer jungen Frau, die ihr finanziell abgesichertes Leben als Escortlady in der adeligen Gesellschaft in St. Petersburg verlässt, um ihrem Geliebten ins sibirische Straflager zu folgen und zudem lenkt Barkhatov damit den Blick auf die Dimension der Straflager und Gulags in der russischen Geschichte. Die Handlung der 1903 in Mailand uraufgeführten Oper erzählt er nämlich aus der Perspektive der frühen 1990er-Jahre, was den Inhalt enorm aufwertet. Versucht man zu ergründen, was dazu führte, dass „Sibirien“ in den ersten Jahren zwar Erfolg beschieden war, dass das Werk im Vergleich zu Giordanos „Andrea Chénier“ dann aber fast in Vergessenheit geraten ist, so sind es nicht nur die aus der Mode gekommenen russischen Themen, die Barkhatov auch im Gespräch mit den VN erwähnte, sondern es ist wohl auch der recht eingeschränkte Blick auf zwei Spielorte, nämlich den Fürstensalon und das Straflager.

Die Komposition selbst bietet eine spannende Auseinandersetzung mit Elementen des Verismo und den Akzenten, die Giordano – etwa einen A-Cappella-Chor oder Volkslieder – einbaute, um Stimmungen zu erzeugen. Dass die Musik nicht der Härte der Handlung entspricht, ist keine Frage, das gilt für Verdi sowieso und auch für die Verismo-Vertreter wie Giordano. Er ist kein Janácek. Mit Dostojewskys „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, die dieser für eine Oper verwendete, hat sich der italienische Komponist allerdings beschäftigt. Sein Librettist Luigi Illica wohl weniger. Das Lesen des Textes erübrigt sich bis zu dem Punkt, an dem Vassili, Stephanas Geliebter, es schafft, die damals übliche Männerrolle zu überwinden, das Vorleben seiner Frau als erledigt zu betrachten und sie als Partnerin anzuerkennen. Sollte das das Uraufführungspublikum neben den ansonsten schmachtenden Reden und den einst leider salonfähigen frauenverachtenden Bemerkungen ihres früheren Zuhälters Gleby überhaupt verstanden haben, dürfte es erstaunt gewesen sein.

Unterschiedliche Temperaturen

Die Rolle Vassilis ist so gestaltet, dass diese Veränderung zum Ausdruck kommt und der Tenor Alexander Mikhailow bleibt diesbezüglich inklusive eines absolut entsprechenden Timbres nichts schuldig. Stephana hat von der Partitur her weniger Wandlungen nachzuvollziehen, als laut Handlung anzunehmen wären. Ein innerer Konflikt ist von Anfang an da, Ambur Braid bringt ihn mit voluminösem Sopran zum Ausdruck, zeigt in den Liebesszenen die Geschmeidigkeit ihrer Stimme und kann im letzten Akt bei der Abrechnung mit Gleby, den es ebenfalls ins Lager verschlagen hat, noch einmal gut auftrumpfen, obwohl die Partie noch etwas mehr Dunkelheit vertragen könnte.

Die Baritonrolle des Gleby entspricht dem Fiesling wie aus dem Bilderbuch und Scott Hendricks erfüllt alles, was es dazu braucht. Clarry Bartha bewältigt als erwähntes Mädchen und als ältere Frau im Film wie auf der Bühne auch einige Sätze von Stephana. Der Prager Philharmonische Chor fesselt mit Präzision und Klarheit. Valentin Uryupin, der vor drei Jahren in Bregenz die Neuinszenierung der Oper „Eugen Onegin“ von Tschaikowsky dirigierte, malt mit den Wiener Symphonikern entsprechend kräftige Bilder, lässt aber auch die recht unterschiedlichen Temperaturen dieses Werks sehr gut zum Ausdruck kommen. In der Abstimmung mit der Bühnenmusik, ausgeführt von Musikerinnen und Musikern des Vorarlberger Landeskonservatoriums, und der weiteren Besetzung (etwa mit einem schönen Mezzo von Frederika Brillembourg als Nikona) läuft alles bestens.

Einprägend

Ebenso wie mit der perfekten Übereinanderlappung von Film- und Spielszenen, die auch die Ausstatter Christian Schmidt und Nicole von Graevenitz sowie der Filmproduzent Pavel Kapinos bewältigen. Ähnlich wie es Tobias Kratzer in seiner mit filmischen Effekten erweiterten „Tannhäuser“-Inszenierung in Bayreuth hinbekommt, lässt Barkhatov die alte Frau, die von Italien nach Sibirien reist, um die Geschichte der Eltern zu ergründen, ganz selbstverständlich auf die Bühne treten. Noch weiter verfeinert interagiert sie hier mit den Sängern. Entweder ohne wahrgenommen zu werden, oder um in einer entscheidenden Szene, jener auf dem Weg, den Barkhatov in ein Gulag-Archiv verlegt, die Problematik der Aufarbeitung der dunklen Geschichte Russlands anzudeuten. In der Schlussszene sehen wir einen Kinderspielplatz im Schnee. Es ist verbrieft, dass sich in der Erde unter einem solchen in Irkutsk die Gebeine von einstigen Gefangenen befinden. Die Frau mit der Asche des Bruders in der mitgebrachten Urne, die somit das Grab ihrer Eltern gefunden hat, darunter auf der Bühne die sterbende Stephana, die auf der Flucht aus dem Lager erschossen wurde – das ist ein Bild, das sich einprägt und verdeutlicht, wie Krieg und Gewalt in nächste Generationen hineinwirken.

Ob ein Werk ins Repertoire von Opernhäusern gelangt, ist von so vielen Umständen, auch von Eitelkeiten in der Branche abhängig, deshalb ist die Frage fast obsolet. Entscheidend ist, ob es zumindest Festspielen gelingt, den Fokus auch auf das weniger Bekannte zu legen, aus dem es Erzählenswertes zu entwickeln gibt. Mit „Sibirien“ ist es gelungen.

Das Schlussbild der Festspielproduktion
Das Schlussbild der Festspielproduktion “Sibirien” prägt sich ein und enthält auch historische Informationen. VN/Stiplovsek

Weitere Aufführungen von „Sibirien“ bei den Bregenzer Festspielen am 24. Juli und
1. August.