Wotan vergeigt es heute wieder

Personenführung macht die Neuinszenierung von Wagners „Ring“ in Bayreuth plausibel.
Bayreuth, Bregenz Keine Missfallensäußerung zum Finale von „Siegfried“: Es geht aufs Konto von Andreas Schager, dass jener Teil des Bayreuther Publikums, der sich bei „Das Rheingold“ und „Die Walküre“ schon einbrüllte, um kundzutun, mit der Regie von Valentin Schwarz nicht d’accord zu gehen, beim dritten Teil des Bühnenfestspiels „Der Ring des Nibelungen“ einmal pausierte. Der österreichische Tenor, der kürzlich die Partie im Rahmen eines Bregenzer Festspielkonzertes sang, hat den aufbegehrenden Kraftprotz, den die Regie verlangt, auch in der Kehle. Angesichts „leuchtender Liebe“ schafft er auch Zartheit und hat mit Daniela Köhler eine Brünnhilde, die ihm stimmlich gewachsen ist.
Nach der „Götterdämmerung“ im letzten diesjährigen Durchgang des Vierteilers zu prognostizieren, dass die neue „Ring“-Produktion der Bayreuther Festspiele jene Erzählweisen fortführt, die (zum 100. Jahrestag der Festspiele) Patrice Chéreau mit der Verankerung des Werks zur Zeit der industriellen Revolution sowie (zum 200. Geburtstag von Richard Wagner) Frank Castorf mit der Kapitalismuskritik zeigten, ist weniger gewagt, wenn man die vielfach repetierte Aussage, nämlich dass Valentin Schwarz die Dramaturgie aktueller Streaming-Serien bei der Betrachtung des Wotan-Clans im Auge hatte, außer Acht lässt. Schließlich ist es gut zu erkennen, dass und wie der österreichische Regisseur (geb. 1989) die Personenführung in seiner Familiensaga aus der Musik heraus entwickelt, und zwar so, dass Sängerinnen und Sänger auch nicht teilweise sich selbst überlassen sind, nachdem sie sich einem Konzept fügen.
Keine Schwäche
Sich dabei nicht auf eine einfach zu paraphrasierende Lesart zu einigen, ist bei einem „Ring des Nibelungen“ auch dann keine Schwäche, wenn die vier mit der „Götterdämmerung“ endenden Opern innerhalb einer Woche aufgeführt werden. Vor allem dann nicht, wenn sich das Verhalten der Personen analysieren lässt. Bei Siegfried, der sich rüpelhaft zu emanzipieren beginnt, ist es einfacher als bei Wotan, aber Spannung erzeugt es allemal. In Mimes versiffter Behausung gönnt sich der musikalische Ideensprüher Schwarz, den sich Festspielleiterin Katharina Wagner schon vor der Pandemie sicherte, mit seinem Bühnenbildner Andrea Cozzi auch ein wenig Ironie. Erklärt Mime seinem Ziehsohn doch die Welt in einem Puppentheater, dessen Vorhang jenem im Festspielhaus gleicht. Den meisten Puppen wird der Garaus gemacht, schließlich ist die Frage, ob ein „Ring“ ohne Märchenhaftes, Drachen, Nixen, Riesen und Zwerge machbar ist, längst obsolet. Nur Nostalgiker geht beim Walkürenritt ein Pferd ab, Brünnhildes Ross ist ein menschlicher Begleiter. „Who the fuck is grane“ ist auf dem T-Shirt von Gunther zu lesen.
Andreas Homoki, der jüngst in Zürich „Das Rheingold“ ebenfalls in einen herrschaftlichen Haushalt verfrachtete sowie Loge ähnlich zeichnete, lässt Fantasiefiguren noch zu, bei Schwarz sind sie weitgehend eliminiert und werden nicht vermisst. In Nibelheim werden Kinder zum Zeichnen einer Art Heldenmasken abgerichtet. Solche kommen nur bei Hagens Mannen zum Einsatz. Siegfrieds Mörder reagiert schon als Knabe mit Gewalt. Von Alberich den Rheintöchtern (hier Kindermädchen) entrissen, erhält ihn Fafner (selbstverständlich weder Riese noch Drache) als Pfand. Zwei Opern später ist er ein alter Grantler, sein Tod kein Mord, sondern mehr ein Unfall und mit seinem Ring weiß Siegfried so und so nichts anzufangen. Nicht nur die Wagnerianer wissen, dass diesen Ring nicht nur Wotan, sondern auch die Gibichungen begehren. Warum sie das tun? Sich auf die mit ihm verbundenen Herrschaftsansprüche erneut zu konzentrieren, wäre im Jahr 2022 recht eindimensional, und superreich sind Wotan und Co sowieso. Die gesellschaftliche Entwicklung, verbunden mit dem Einfluss auf die nächste Generation, kristallisiert sich als Idee heraus, die etwas hat. Wotan hat es auf ganzer Linie vergeigt, Alberich ohnehin, Erda und Fricka traut im Grunde schon Wagner nicht viel zu. Da tut Schwarz, was er kann, er kümmert sich wenig um die aus Sagen zusammengeklauten Aspekte und inzestuösen Verbindungen (Sieglinde könnte bei ihm auch von Hunding oder gar Wotan schwanger sein) und offenbart allerlei Facetten der Kompensation in der Wohlstandsgesellschaft. Dass es ihm dabei gelingt, uns plakative Figuren interessant zu machen, und wie detailreich er arbeitet, zeigt sich etwa in Frickas Gesten, in Freias Suizid, bei erträumten Nornen, in der Konfrontation von Wotan und Brünnhilde oder – als besonderes Beispiel – mit dem Waldvogelmädchen, das von Fafner gedemütigt wird und nach dessen Tod eine Gebärde der Befreiung zeigt.
Wichtiges Thema
Ausgerechnet im letzten Aufzug der „Götterdämmerung“ geht der Regie allerdings die Luft aus. Im einstigen Pool der Rheintöchter sitzt Siegfried mit der Angel vor der verbliebenen Wasserlache, Brünnhilde betrauert mehr den Tod von Grane als jenen ihres einstigen Geliebten. Ein Kind wird den beiden ebenfalls hinzugedichtet. Für einen kurzen Moment, wenn es der sterbende Siegfried umarmt, entsteht damit ein ungemein starkes Bild, das ein wichtiges Thema fokussiert, dem sich mittlerweile mehrere Regisseure wie auch Vasily Barkhatov in der Bregenzer „Sibirien“-Inszenierung widmen, nämlich der Wirkung von Gewalterfahrungen in den nächsten Generationen. Zu den Schlussakkorden herzen sich jene zwei Babys im Mutterleib, die sich beim „Rheingold“-Vorspiel (als Wotan und Alberich) noch ein Auge ausgeschlagen und in die Eier getreten haben. Der „Ring“ endet zwar mit einem schlichten Bild, erweist sich aber keineswegs als versimpelt.
Das Premierenpublikum soll wütend getobt haben, nach nun hörbarer Ablehnung, aber auch Zustimmung hielt dem finalen Bravoruf keiner ein Buh entgegen und die besten Stimmen der Produktion gehören neben den Erwähnten weiters Klaus Florian Vogt (Siegmund), der gewandten Lise Davidsen (Sieglinde), Elisabeth Teige (Gutrune), Christa Mayer (Fricka), Okka von der Damerau (Erda) sowie Georg Zeppenfeld (Hunding) und Wilhelm Schwinghammer (Fafner). Egils Silins gibt dem Wotan im „Rheingold“ tolles Format, das andere Timbre des Tomasz Konieczny an weiteren Abenden findet Gefallen. Stephen Gould bringt als zweiter Siegfried die hohen Töne, Irène Theorin die Brünnhilde der „Götterdämmerung“ zum Leuchten.
Das Besetzungskarussell im „Ring“-Verlauf mag Gründe haben, den musikalischen Bogen stört es. Hierzu zeigt Cornelius Meister als Einspringer am Pult mehr Beachtliches, als das Publikum anzuerkennen gewillt ist. CD