Extreme in einer angepassten Zeit

Kultur / 10.02.2023 • 18:41 Uhr
The ShardsBret Easton Ellis, 736 Seiten, Kiepenheuer & Witsch

The Shards

Bret Easton Ellis, 736 Seiten, Kiepenheuer & Witsch

Die 1980er-Jahre sind lang her, auch in der Literatur – ob sie wiederbelebt werden können?

WELTLITERATUR Es war einmal ein junger Mann, der hätte seiner Herkunft und dem Willen seiner Eltern wegen Broker oder Anwalt werden sollen. Hauptsache reich. Ihm war jedoch nicht danach und er versuchte nach der Hochschule seinen eigenen Weg zu gehen. Er wurde Autor und fing seine Generation mit einem Sensor für Zeitgeist ein. Daraus entstanden zwei Romane, die einen Hauch von Weltliteratur in sich hatten: Mit „Unter Null“ fing Bret Easton Ellis die Generation aus gut situierten und gut gebildeten, aber absolut instabilen und von jeglicher Moral befreiten Jugendlichen ein. Dazu schuf er eine bebilderte MTV- und Vogue-Welt, die er literarisch auf den Horrortrip schickte, auskristallisiert in seinem zweiten Roman „An American Psycho“, wo er die New Yorker Schickeria das Fürchten lehrte. Aber warum eigentlich? Der Broker Patrick Bateman tötet in seiner Freizeit wahllos Personen, zum größten Teil Frauen. Das haben andere US-Autoren vor ihm auch schon geschrieben, aber keiner machte es eindringlicher als Ellis. Dazu noch ein Ende, in dem „die Gesellschaft“ sämtliche Verbrechen vertuscht. Und jetzt „The Shards“, sein neuer Roman mit über 700 Seiten, 13 Jahre danach. Macht das Sinn?

Also vorab: Es gab schon einige Monate vor der Veröffentlichung einen sehr lohnenden Podcast zu hören, auf dem der Autor mit sonorer Stimme die ersten Kapiteln las. Die Leserschaft wuchs dramatisch, sodass für den fein säuberlich geplanten PR-Podcast heute sogar eine Gebühr verlangt werden kann. Die Fangemeinde stand also parat, die Medien besorgten den Rest: Eine ziemlich einheitliche Heiligsprechung. Und der Roman? Mit nicht mehr so ganz messerscharfer Klinge rückt er der Jugend von 1983 zu Leibe. Schön zu lesen, gekonnte Langweile im großen Stil, nichtssagende Eskapaden, geeint mit den damaligen Musikströmungen bin hin zum pastellfarbenen Ralph-Lauren-Polo und Bret Easton Ellis gleichgeschlechtlichen Sexualphantasien, die er heutzutage halbwegs problemlos literarisch verarbeiten kann. Und daneben schleicht sich ein Serienkiller an die Jugendlichen der Westküstenelite heran und erwischt zumindest drei aus der Clique. Ellis fungiert hier zwischen Erzähler und Hauptfigur und spielt sich mit Großstadtmythen und tatsächlichen Gewaltverbrechen auf seine eigene Art. Heraus kommt ein mächtiges, seitenstarkes Werk. Respekt! Ob es reicht, die heutigen Generationen damit zu erreichen, wird sich weisen.

Schleusen, Augen, Schäbel, Ururus

Ein ganz anderes Thema behandelt Maxim Znak in „Zekamerone“. Znak kommt aus Belarus und ist Anwalt, Marathonläufer, Songtexter, Geschichtenschreiber und Mitglied der oppositionellen Bewegung. Anfang der 2020er-Jahre wendet sich sein Leben um 180 Grad: Er wird aufgrund der „Gründung einer Terrororganisation“ zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Der nun inhaftierte Autor berichtet in Kurzgeschichten, die aus Untersuchungshaftanstalten geschmuggelt wurden, über den Gefängnis-alltag. Neben Beschreibungen über die Zustände der Anstalten, zeichnet der Autor durch Erzählungen über alternative Methoden zur Linderung von Zahnschmerzen, die abstrusen Regeln der Gefängniswärter und Fernsehgewohnheiten der Häftlinge und dem Miteinfließen von Wörtern wie „Schleuse“, „Auge“, „Schnabel“ und „Ururu“ – belarussischer Gefängnisslang – ein realistisches Bild. Es sind 100 Geschichten. Sie lehren über Zusammenhalt und Freundschaft, manche werden den Leser nachdenklich stimmen, andere bringen ihn zum Lachen und dann gibt es wiederum solche Geschichten, die einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Eines ist Znak groß anzurechnen: Er verliert trotz des trostlosen Gefängnisalltags weder seinen Humor noch – viel wichtiger – seine Leidenschaft fürs Schreiben.

ZekameroneMaxim Znak, 241 Seiten, Suhrkamp

Zekamerone

Maxim Znak, 241 Seiten, Suhrkamp