„Die Außenwelt wird maßlos überschätzt“

Intendantin Stephanie Gräve stellt das Programm des Vorarlberger Landestheaters für die Saison 2023/24 vor.
Bregenz Beherzt, feinsinnig, sich den aktuellen brennenden Themen stellend, so könnte man das neue Theaterprogramm für die Saison 2023/24 kurz zusammenfassen. Wenn jemand nach dem sprichwörtlichen roten Faden im Gesamtprogramm suchen möchte, dem seien hier einige Schlagwörter ans Herz gelegt: Empathie, Hoffnung allen Widrigkeiten zum Trotz, bewundernswerte starke Frauen, Doppelbödigkeiten.
Gestartet wird am 23. September mit „Atlas streikt“. Die Autorin Ayn Rand nähert sich dem mythischen Atlas an, der das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern trägt, irgendwann einmal, müde des Tragens, mit seinen Schultern zuckt und seine Last einfach abwirft, d. h. was passiert, wenn die tragenden Säulen (Menschen) dieser Welt plötzlich verschwinden würden?
Wir alle taumeln dem Abgrund entgegen, wie „Fabian“, der Held des gleichnamigen Romans von Erich Kästner (ab 13. Oktober), der im Berlin der „roaring twenties“ versucht, in seiner Spur (als Moralist) zu bleiben. Kästner warnte darin schon 1931 vor dem moralischen und politischen Verfall.
Menschliche Abgründe
Die beiden britischen Autorinnen Sarah Kane und Leonora Carrington steuern mit „Gier“ (ab 9. November) und „Das Fest des Lamms“ (ab 14. Februar 2024) mitten hinein in menschliche Abgründe. Wie sagte Kane einmal treffend: „They will love me for that which destroys me“, und in der Tat, Sarah Kane wurde keine 30 Jahre alt. Ihre Geschichten sind düster, nonkonform, aber voll von der Sehnsucht nach Zärtlichkeit. Die Künstlerin Bella Angora entwickelt zu Kanes Stück eine performative Inszenierung. Gespannt sein darf man auf „Fest des Lamms“, ein Kabinettstück schwarzen Humors, entstanden 1940 und erst 1955 uraufgeführt, dem zu Grunde der Mythos von Phasiphae und dem Stier des Poseidon liegt, aus deren Liebesbeziehung der grausame Minotaurus hervorgegangen ist. Bei Carrington treibt ein werwolfartiges, Frauen betörendes Wesen sein Unwesen. „Ich habe einen Stoff gesucht, bei dem man zwischen Lachen und Weinen schwankt“, sagt die Komponistin Olga Neuwirth, die daraus ihre Horroroper „Bählamms Fest“ (in der Bearbeitung von Elfriede Jelinek) gemacht hat.
Mit Heinrich von Kleists „Amphitryon“ und der Frage nach „Was ist Wahrheit“, der Uraufführung „Maria Stromberger“, dem „Engel von Ausschwitz“, einem Auftragsstück der österreichischen Autorin Gerhild Steinbuch, die damit eine künstlerische Annäherung an diese mutige Frau unternimmt, sowie „Die Schneekönigin“, ein Märchen von Hans Christian Andersen, findet das Programm seinen Fortgang.
Eine Uraufführung der deutschsprachigen Erstaufführung „The Bitch Boxer“ in Kooperation mit dem Aktionstheater Ensemble von Martin Gruber, Shakespears „Hamlet“ und „The Perfect Moment“, eine Uraufführung mit Musik, runden die Spielzeit ab. Beendet wird sie mit „Just Kids“ von Patti Smith, ein Stück, das von ihrer Liebesbeziehung zu Robert Mapplethorpe handelt.
FLAT 26
Mit einem Gesamtbudget von über fünf Millionen Euro, wovon der Bund rund 200.000 Euro und die Stadt Bregenz 61.000 Euro beisteuern, und einem Eigenerlös von rund 15 Prozent befindet sich das Landestheater in guter Gesellschaft. Seit 2016 gab es keine Tariferhöhungen, die Kartenpreise werden nun moderat angehoben. Die Umsetzungsphase der technischen Sanierung sowie der Öffnung der Fassade zum Karl-Tizian-Platz ist für 2025/26 angedacht. Einzigartig bleibt die FLAT 26 für alle unter 26 Jahren, für 26 Euro kann man so oft ins Theater gehen, wie man will. „Wer will, dass die Welt bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt“, sagte der österreichische Dichter und Essayist Erich Fried, der prophetisch voraussah. Stephanie Gräve gehört nicht zu denen, die wollen, dass die Welt so bleibt, wie sie ist. Ihr Credo: Theater als Schule der Empathie! tsh
