Surreale Welten und brillante Sänger

„Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen 2023.
bayreuth „Kinder, macht Neues!“ war das Motto des Open-Air-Konzerts am Vorabend der großen Eröffnung der diesjährigen Bayreuther Festspiele. Und es passte perfekt zum „Parsifal“, in dem Regisseur Jay Scheib mit seiner Inszenierung eine innovative Augmented-Reality-Version des Bühnenweihfestspiels präsentierte, die virtuelle Welten erschloss. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an das Projekt von Scheib, einem renommierten Professor für Theaterkunst am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Majestätisch ragt die Gralsburg aus einem riesigen Kranz von Leuchtröhren in den Bühnenhimmel, ein Wasserbecken dient zeitweise als Bühnenrequisit.
Die virtuellen Animationen durch die AR-Brillen bieten den privilegierten Zuschauern ein faszinierendes Erlebnis, bei dem sie von Computerbildern umgeben sind – Tauben, Insekten, Sterne, Müll, Kristalle und vieles mehr fliegen durch den virtuellen Raum voller überraschender Elemente.
Geschickt setzt Scheib Augmented Reality ein, um die Bühnenrequisiten zu erweitern und in einigen Szenen eins zu eins zu visualisieren. Wenn Parsifal beispielsweise einen Schwan tötet, wird der Schwan von Pfeilen durchbohrt, die virtuelles Blut spritzen lassen.
Augmented Reality
Die Bilderwelt vereint christliche Symbolik wie Schlange, Lilie und Dornen und zeigt im dritten Akt auch eine deutliche Gesellschaftskritik mit Elementen wie Batterien und Müll, die die Umwelt bedrohen und für Krieg stehen. Besonders beeindruckend sind die surrealen Traumwelten im zweiten Akt, die an Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ erinnern und faszinierende Möglichkeiten des Unbewussten eröffnen.
Die Integration von Augmented Reality mittels Videobrille in die Inszenierung führte zu unterschiedlichen Erfahrungen beim Publikum. Die deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth sagte beim Staatsempfang nach der Festspieleröffnung, sie habe die AR-Brille nur zu Beginn aufgesetzt und dann wieder abgenommen, weil sie ohne sie „mehr in die Inszenierung reingekommen“ sei. „Ich finde es gut, dass man neue Formate macht, neue Versuche“, sagt sie. „Ob es immer funktioniert, ist eine andere Frage.“ Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder gibt zu, die Brille „kaum aufgesetzt“ zu haben. „Ich fand es ohne ehrlich gesagt besser.“ Dirigent Pablo Heras-Casado meistert bei seinem Debüt die schwierige Akustik des Festspielhauses mit einer ausgefeilten Interpretation der Musik. Obwohl er zügige Tempi wählt, wirkt die Musik nie gehetzt, sondern faszinierend langsam und feierlich. Wagners raffinierte Klangmischungen und Steigerungen setzt der Stardirigent sorgfältig um und schafft so eine kraftvolle musikalische Atmosphäre.
Als Glücksfall erweist sich Andreas Schager, der kurzfristig für Joseph Calleja einspringen musste. Als einer der führenden Wagner-Tenöre gibt er dem Jüngling mit der überbordenden Kraft und dem jugendlichen Überschwang, der die Folgen seines Handelns erst nach und nach erkennt, die perfekte Gestalt und begeistert mit seinem brillanten Tenor. Noch mehr als der Titelheld wird aber Opernstar Elīna Garanča bei ihrem Bayreuth-Debüt für ihre brillante Darstellung der Kundry gefeiert. Auch sie hatte die Rolle kurzfristig übernommen, weil die russische Sängerin Ekaterina Semenchuk ihre Teilnahme an den Festspielen „aus privaten Gründen“ abgesagt hatte. Garanča erntet großen Beifall für ihre vielseitige, ausdrucksstarke, kraftvolle und einfühlsame Darstellung. Aus einer Figur, die eigentlich ein Sammelsurium männlicher Projektionen ist, schafft sie eine faszinierend eigenständige und doch schwer zu fassende Frauenfigur. Der Fluss und der Puls ihres Spiels stehen immer im Dienst der Charakterdarstellung.
Begeisterung
Georg Zeppenfeld als exzellenter Gurnemanz rundet die großartige Sängerauswahl ab. Sowohl in den kleineren Rollen als auch im Chor, sowohl bei den Männerstimmen als auch bei den Frauenstimmen, überzeugen Klang und Ausdruck und bereichern die Aufführung auf eindrucksvolle Weise. Die wenigen Buhs am Ende der Aufführung kamen jedenfalls hauptsächlich von denen, die die Aufführung ohne Brille gesehen hatten. Für die musikalische Leistung war die Begeisterung groß. VN-AMA
