Liebe und Selbstbestimmung

Kultur / 15.08.2023 • 19:01 Uhr
Jana Vettens Interpretation von Massenets Werther bietet eine zeitgemäße Perspektive auf die Handlung.
Jana Vettens Interpretation von Massenets Werther bietet eine zeitgemäße Perspektive auf die Handlung.

Bregenzer Inszenierung von Jules Massenets „Werther“ rückt Charlotte in den Mittelpunkt.

Bregenz Der sentimentale Briefroman über den Freitod eines unglücklich Verliebten, den Johann Wolfgang von Goethe 1774 in seinem Romandebüt „Die Leiden des jungen Werthers“ schrieb, löste bei vielen jungen Männern das sogenannte „Werther-Fieber“ aus: In gelbe Hosen und blaue Jacken gekleidet, folgten nicht wenige, wenn ihr Werben erfolglos blieb, Werthers Beispiel und begingen Selbstmord.

In der Inszenierung von Jana Vetten wird Jules Massenets „Werther“, 1892 entstanden, zu einer zeitgemäßen Reflexion über das Wesen der Leidenschaft, den Kampf um Autonomie und die Kraft der Gemeinschaft. Die Regisseurin rückt die Figur der Charlotte in den Mittelpunkt, die nicht mehr nur Objekt der Begierde ist, sondern als moderne Frau ihre eigene Agenda verfolgt. Dabei gelingt es Vetten, die Oper aus einer neuen Perspektive zu erzählen und die vielschichtigen Motive der Handlung zu erforschen.

Zustimmung und Ablehnung

Vettens Herangehensweise ermöglicht einen tieferen Einblick in das emotionale und psychologische Innenleben von Charlotte. Diese Interpretation eröffnet einen Dialog über Themen wie die MeToo-Bewegung und das komplexe Zusammenspiel von Zustimmung und Ablehnung. Die Hervorhebung von Charlottes Perspektive verleiht der Geschichte zusätzliche Tiefe und unterstreicht die Entwicklung ihrer Charaktereigenschaften.

Das Bühnenbild hingegen zeigt wenig Inspiration – ein rosa Vorhang, der sich bei Werthers Tod auf „Halbmast“ senkt, ist der Blickfang, mehr aber auch nicht. Und die Frage, warum der Mond viermal aufgeht, um dann mehr oder weniger grundlos wieder zu verschwinden, bleibt unbeantwortet.

Die intime und detailreiche Musik Massenets kommt in dieser Inszenierung voll zur Geltung, und die Präsenz des wunderbaren Kinderchors der Musikmittelschule Bregenz-Stadt schafft eine besondere Atmosphäre, die sowohl die zarten Nuancen als auch die emotionalen Höhepunkte der Partitur unterstreicht. Die Vielfalt der musikalischen Farben spiegelt sich nicht nur in der Musik, sondern auch in der erzählten Geschichte wider.

Akzente auf der Bühne werden durch die Wahl der Kostüme gesetzt – einfache Kleider in kräftigen Farben, die Visualisierung der Gegensätze zwischen der bunten, lebendigen Gemeinschaft und dem zerrissenen Inneren Werthers und Charlottes fügen der Aufführung eine visuelle Ebene hinzu, die die emotionalen Kontraste unterstreicht.

Die herausragenden Momente der Produktion manifestieren sich in der fabelhaften musikalischen Darbietung des Symphonieorchesters Vorarlberg unter der Leitung von Claire Levacher sowie in den bezaubernden Gesangsstimmen der jungen Künstlerinnen und Künstler des Opernstudios der Festspiele.

Raúl Gutiérrez verkörpert die zerrissene Seele des Protagonisten Werther mit leidenschaftlicher Hingabe. Seinem nuancierten, lyrischen Tenor fehlt es – noch – etwas an Volumen, doch vermittelt er eindrucksvoll die emotionalen Abgründe von Werthers Sehnsucht und Verzweiflung.

Erfrischende Inszenierung

Kady Evanyshyn, eine virtuose Sopranistin, bringt eine fesselnde Präsenz auf die Bühne und verwebt ihre klare, strahlende Stimme mit der Handlung. Ihre Interpretation der Charlotte zeigt die innere Entwicklung der Figur, die zwischen Pflichtgefühl und eigenen Wünschen schwankt. Evanyshyns stimmliche Bandbreite ermöglicht es ihr, die emotionale Bandbreite dieser komplexen Figur eindrucksvoll darzustellen.

Ebenfalls großartig ist die irische Sopranistin Sarah Shine als Sophie.

Die musikalische Leitung von Claire Levacher, die präzise und einfühlsam dirigierte, verlieh der Aufführung einen beeindruckenden Zusammenhalt. Allerdings führte sie das Orchester in einigen Momenten zu energisch, was zu einer Überbetonung und stellenweise zu hoher Lautstärke führte. Dem Symphonieorchester Vorarlberg gebührt ein großes Lob für seine Leistung.

Insgesamt bietet die Inszenierung einen erfrischenden und tiefgründigen Zugang zu einem bekannten Werk und lädt das Publikum ein, über die zeitlosen Themen Leidenschaft, Liebe und Selbstbestimmung nachzudenken. Großer Jubel beim Premierenpublikum. VN-AMA

Der wunderbare Kinderchor der Musikmittelschule Bregenz-Stadt. VN/Paulitsch
Der wunderbare Kinderchor der Musikmittelschule Bregenz-Stadt. VN/Paulitsch