„Ich lese mit Messer“

Jochen Höller zeigt seine Werke im Bildraum Bodensee.
Bregenz Jochen Höller (46), ursprünglich Holz- und Steinbildhauer (bei Erwin Reiter, Linz), ist ein belesener, wohl auch besessener Mensch. Mit Pinzette, Skalpell und anderem feinmechanischen Gerät bewaffnet, „zerschnippelt“ er ganze Bücher, um an die einzelnen Wörter bzw. an einzelne Buchstaben zu gelangen. Um diese dann in selbst entworfenen und ausgeführten Skulpturen neu anzuordnen, einer Textmaschine gleich, die dann den gesamten Inhalt des Buchs in einer beliebigen Form oder auch in der vorgegebenen Fassung wiederzugeben vermag. Man muss sich das so vorstellen: Die ersten Wörter eines jeden Satzes kommen auf die erste Scheibe der Textmaschine, die zweiten Wörter auf die zweite Scheibe und so weiter.
Die so mit den einzelnen Scheiben beklebten Wörter können nun x-beliebig gedreht werden und dadurch entstehen gänzlich andere Wortkombinationen und Sätze. Es ist zwar immer noch dasselbe Buch, derselbe Inhalt, aber vollkommen dekonstruiert.
Der Blick in die Unendlichkeit
Die Rede ist von Werken wie Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, Jorge Luis Borges „Die Bibliothek von Babel“ oder Giordano Brunos „Über das Unendliche, das Universum und die Welten“.
Der Priester, Philosoph und Astronom Giordano Bruno wurde aufgrund seiner Schriften von der Inquisition der Ketzerei und der Magie für schuldig befunden und im Jahr 1600 zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Bruno hatte es nicht nur gewagt, das geozentrische Weltbild infrage zu stellen, er ging sogar so weit, von der Unendlichkeit des Weltalls zu sprechen. Höller seziert Brunos Werk, schneidet einzelne Buchstaben (über 7000!) daraus aus und bringt sie mit einem Skalpell und Klebstoff auf einen schwarzen Bildträger auf. Als Grundlage für die Anordnung der Lettern nimmt er eine Aufnahme des Hubble-Teleskops aus den Tiefen des Alls. Aus der Entfernung sieht man eine Art Milchstraße als Bild, beim näheren Betrachten erkennt man die einzelnen Buchstaben, gleichsam als Spiralnebel angeordnet.
An Würfelquallen erinnern die vier Skulpturen zu verschiedenen Wanderungen der Literaten Tieck, Thoreau, Walser. Auf hauchdünnen, ca. 89 cm hohen Weißblechfäden, die in einer Ethafoamplatte stecken, wird ein gelbes Reclamheftchen (der Titel der Ausstellung amRelc ist ein Anagramm von Reclam) im Gleichgewicht gehalten. Das nicht einmal millimeterstarke Blech ist seiner Länge nach ebenfalls mit Wörtern, Sätzen aus den genannten Werken beklebt.
Einen weiteren Augenschmaus stellt Höllers „Textmaschine II“ (2021) in der Mitte des Ausstellungsraums dar. In ihrer Gestaltung erinnert die Skulptur an ein Füllhorn oder auch an eine Art Wurmloch. Auf Metallspeichen in verjüngender Form hintereinander angebracht, ist der Text aus „Alice im Wunderland“ zu lesen. Oder die sechseckigen Kartontafeln, auf denen die gesamte „Bibliothek von Babel“ zu lesen ist, nicht weniger als 68 Ebenen mit Wortfragmenten (das Universum bzw. die Bibliothek von Borges besteht aus einer unbegrenzten, vielleicht unendlichen Anzahl sechseckiger Galerien, während in Eccos „Der Name der Rose“ der Leseturm als achteckiges Gebäude erscheint).
Hintergründigkeit
Die „Reclamstele“ (2019), man könnte sie auch gut „Gesellschaft und Demokratie“ nennen (Der Staat, Nikomachische Ethik, Vom Gesellschaftsvertrag, Recht und Moral u.a.), besteht aus 25 hochkant gestapelten, nicht miteinander verklebten Reclamheftchen, deren Basis Platons „Der Staat“ ist. In diesen Büchern steht alles schon geschrieben, was wir für unser gemeinsames Leben in Frieden und Freiheit benötigen würden, um es lebenswerter zu gestalten. Last but not least das Werk „Philosophischer Durchblick“ (2023), Philosophie als Gedankenbrunnen, ein Faszinosum ersten Ranges, von einer Hintergründigkeit, die kaum zu überbieten ist. Eine hochintelligente, vor allem aber ungemein beeindruckende Ausstellung, die uns der „Alchimist“ Jochen Höller hier präsentiert. THS

Bildraum Bodensee, Bregenz, Jochen Höller / amRelc, 23. September bis 8. November 2023, www.bildraum.bildrecht.at