Der Verstand ist im Streik

Kultur / 24.09.2023 • 19:05 Uhr
Auf der Bühne herrscht selten Stillstand: Nanette Waidmann, Luzian Hirzel, Rebecca Hammermüller, Raphael Rubino, Ingolf Müller-Beck, Maria Lisa Huber, Nico Raschner, Stefan Hartmann, Oliver Rath (v. l.).LT/Köhler (2)
Auf der Bühne herrscht selten Stillstand: Nanette Waidmann, Luzian Hirzel, Rebecca Hammermüller, Raphael Rubino, Ingolf Müller-Beck, Maria Lisa Huber, Nico Raschner, Stefan Hartmann, Oliver Rath (v. l.).LT/Köhler (2)

Das Vorarlberger Landestheater eröffnet seine Spielzeit mit einer Adaption von Ayn Rand.

Bregenz Es ist keine leichte Kost, welche Regisseur Niklas Ritter dem Publikum mit „Atlas streikt“ kredenzt. Wie auch, wenn man bedenkt, dass es seine Aufgabe war, einen über 1000 Seiten starken Roman von 1957 sinnergebend und bühnentauglich auf nicht einmal 100 Seiten Dialog auf DIN A4 zu reduzieren. Erschwerend dazu kommt der Umstand, dass es sich um eine Geschichte von Ayn Rand handelt.

Ein knackiger Exkurs zu Rand soll erlaubt sein. 1905 in Russland geboren, erlebte sie im Zuge der Revolutionen von 1917 die Enteignung ihrer Familie. Eine prägende Erfahrung, welche Rand zur Antikommunistin machte. 1926 emigrierte sie in die USA, schrieb 1943 mit „The Fountainhead“ jenen Bestseller, in welchem sie bereits ihre Ansichten definierte, dass Moralität in rationalem Selbstinteresse gründe, sowie dass uneingeschränkter Kapitalismus und Individualismus dem Kollektivismus überlegen sind.

In „Atlas streikt“ weicht Rand keinen Millimeter von dieser These ab, davon kann man sich nun im Vorarlberger Landestheater überzeugen. Der Roman spielt im Amerika der 50er-Jahre, daher ist es nur konsequent, nicht der Versuchung zu unterliegen, die Szenerie ins Europa des 21. Jahrhunderts zu transportieren. Die Kernaussage funktioniert auch so. Parallelen zu heutigen Ereignissen sind nicht von der Hand zu weisen.

Intrigenstadl

Eisenbahnerin Dagny Taggart (Vivienne Causemann macht wie immer Causemann-Sachen) geht eine geschäftliche wie auch romantische Liaison mit dem innovativen, verheirateten Stahlmagnaten Hank Rearden (Raphael Rubino wirkte bei der Premiere etwas entkräftet, daher gute Besserung!) ein. Sie entdecken in einer verlassenen Fabrik die Überreste eines zukunftsweisenden Fusionsreaktors, auf dessen Entwicklers Spuren sie sich begeben. Zeitgleich arbeitet Dagnys Bruder James Taggart (Nico Raschner mit einem bemerkenswerten darstellerischen Schritt nach vorn) mit seinen Komplizen daran, im bestehenden System noch reicher zu werden. Nebenbei verschwinden immer mehr erfolgreiche und begabte Menschen spurlos von der Bildfläche. Diese hinterlassen sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wirtschaft ein Vakuum.

Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes 10-289, von welchem sich „Die da oben“ unter dem Deckmantel, das Volk zu schützen, eine Zeitenwende von der Innovation hin zum Stillstand erhoffen, tritt eine Eskalation in Kraft, die eine Abwärtsspirale zum in Bregenz etwas esoterisch inszenierten Finale in Gang setzt. Die von den Charakteren immer wieder gestellte, beinahe zur Floskel verkommende Frage, wer wohl John Galt sein möge, muss hier aufgrund der Dramaturgie unbeantwortet bleiben. Ein gewisser Anreiz zum empfohlenen Theaterbesuch sollte noch bestehen.

Hochmotivierte Darsteller

Das reduzierte Bühnenbild mit sich drehender, interaktiver Videowand ist zweckdienlich und Oliver Rath lässt an der Gitarre Erinnerungen an Neil Youngs Soundtrack zu „Dead Man“ hochleben. Die Inszenierung ist von einer galoppierenden Dynamik getrieben, in deren Verlauf sich dann doch die Frage stellt, ob da im Sinne der Handlung schon die richtigen Kürzungen am Material vorgenommen wurden, ob eine Reduktion diverser Nebenstränge nicht noch sinnvoll gewesen wäre. Bei einer Spieldauer von drei Stunden (mit Pause) kommen einem solche Gedanken. Die Szenenwechsel sind logisch, die neun hochmotivierten Darsteller, welche ja wie üblich teils mehrere Rollen zu spielen haben, stellen sich mit Verve, Humor und Ernsthaftigkeit – je nachdem, was gerade verlangt wird – in den Dienst des Stücks.

In manchen Momenten fühlt man sich wie in einer Koproduktion von David Lynch und den Coen Brothers, besonders was die Dialoge und die popkulturellen Zitate angeht. Diese sind einerseits clever, wenn beispielsweise beim Biss in einen Cheeseburger auf Pulp Fiction angespielt wird, andererseits plump, wenn der physische Akt der Liebe auf der Videowand durch einen in den Tunnel einfahrenden Zug angedeutet wird.

Mut wird belohnt

Theater darf provozieren, herausfordern und auch ungemütlich sein – wir sind hier schließlich nicht in einem Wellnesshotel. Das Landestheater stellt sich dieser Herausforderung mit einer mutigen Inszenierung von „Atlas streikt“ und löst diese Aufgabe im Sinne von Ayn Rand – mit Verstand. VN-HF

„Atlas streikt“ ist noch bis 29. Oktober am Vorarlberger Landestheater zu sehen. Weitere Informationen und Ticketbestellungen unter https://landestheater.org/