Alles, was geschieht, soll geschehen

Bella Angoras Inszenierung von „Gier“ am Landestheater als psychologischer Spagat.
Bregenz Wenn der Satz, dass Mut belohnt wird, nicht nur eine Phrase oder – schlimmer gar – ein Sprichwort aus Bulgarien oder anderorts wäre, und die Belohnung dann auch noch monetär ausfallen würde, dann könnte sich Landestheater-Intendantin Stephanie Gräve neben dem Korn- gleich einen Geldspeicher planen lassen. Da es diesbezüglich aus der Erfahrung heraus bei der Hypothese bleiben wird, gilt ihr zumindest insofern Dank auszusprechen, ihr Haus für eine Inszenierung von Bella Angora zu öffnen. Letztgenannte hat nicht umsonst im Jahr 2021 den Ehrenpreis des Landes Vorarlberg für Kunst erhalten. Wer um die Eindringlichkeit ihrer Herangehensweise an das, was gemeinhin als Performance bezeichnet wird, weiß, und dann auch noch das Stück „Gier“ der Britin Sarah Kane (1971–1999) kennt, der kann erahnen, dass das, was derzeit in Bregenz zur Aufführung gebracht wird, in dieser Konstellation und Schnittmenge ganz sicher keine leichte Kost ist.
Seelenstriptease vorprogrammiert
Ein Glücksgriff ist die Entscheidung, „Gier“ auf der Hinterbühne zu spielen. Es braucht genau diese Intimität, genau diese Enge. Das Publikum hätte sich auch nicht quergestellt, wenn die Bedingung zum Theaterbesuch ein Ausziehen bis auf die Unterwäsche gewesen wäre. Doch wie bei Bella Angora üblich, bleibt es dann doch – zumindest bei der Rekapitulation des Erlebten – beim Seelenstriptease. Doch alles der Reihe nach.
„Immer wieder versuche ich zu verstehen, aber ich verstehe es nicht“, sagt eine der vier Figuren, welche von Kane der Einfachheit halber A, B, C und M genannt wurden. Je nach Interpretation können diese als verschiedene Stimmen oder als die Gedanken nur einer Person gedeutet werden. Bella Angora löst die Herausforderung, diesen psychologischen Spagat zu transportieren, exzellent. Thematisiert werden in nicht zwingend zusammenhängenden Sätzen, dafür in einer dichten, rhythmischen Poesie, die große Themen Leben und Liebe und gleichsam die untergeordneten Gefühlswelten von Begierde bis Sehnsucht, von Verzweiflung bis Hoffnung. Ein weiteres Satzbeispiel gefällig? „Ich habe ihr Herz gebrochen, was will ich mehr?“ Wer nach einer Rahmenhandlung Ausschau hält, der sucht vergeblich. Es ist das Konzert der vier Stimmen, welches das Stück zusammenhält. Doch nicht immer gilt Sprache der Kommunikation – es sind leere Worte, die es offenlassen, ob die Erlösung durch die Liebe oder den Tod erfolgt.
Organismus der Gleichwertigkeit
Bella Angora vertraut in ihrer Inszenierung, in welcher sie selbst als eine Art Arrangeurin auf der Bühne fungiert, auf vertraute Personen. Sarah Mistura zeichnet sich für die radikale Videoarbeit verantwortlich, Simon Tamerl regelt das Licht, Daniel Pabst an der Gitarre und Oliver Stotz untermalen das Stück musikalisch, Vivienne Causemann, Luzian Hirzel, Nico Raschner sowie Ines Schiller zeigen als Protagonisten A, B, C und M, wie Dialog zu funktionieren hat. Bella Angora gelingt es, einen Organismus der Gleichwertigkeit aus all diesen Künsten zu schaffen, welchem es weder an Timing noch an Metaphern mangelt. Es ist ein Weg ins Licht, ohne dabei Energie zu sparen.
Somit entsteht ein düsteres Bild, das eher gen Lebensverneinung denn -bejagung kippt und ordentlich zum Nachdenken anregt. Ja, die Auseinandersetzung mit sich selbst ist nicht immer eine angenehme Sache. Genau darin besteht die Wirkmacht von „Gier“ im Landestheater. Oder, wie es Sarah Kane formuliert hätte: „Und wenn das keinen Sinn macht, dann verstehst du vollkommen.“ VN-HF
„Gier“ ist noch heute, Samstag, 11. November, im Vorarlberger Landestheater zu sehen – mehr Aufführungen im Jahr 2024. Mehr Infos unter https://landestheater.org/