Ich war kein Ich mehr und lebte nicht in einem Wir

Umjubeltes viertes Konzert des Symphonieorchesters Vorarlberg.
Bregenz Unter der Leitung von Jonathan Brandani entfaltete das Symphonieorchester Vorarlberg in seinem vierten Konzert ein musikalisches Panorama, das in die Sehnsucht nach Heimat und die Welt der menschlichen Identität eintauchte. Der Abend, der mit Nino Rotas (Oscar-Gewinner für “Der Pate 2”) beschwingter Ouvertüre zur Oper “Il cappello di paglia di Firenze” begann, stimmte auf ein Programm ein, das die Zuhörer von Italien über Lindau nach Frankreich führte und dabei die vielschichtigen Emotionen von Heimweh und Zugehörigkeit auslotete.

Der 1949 in Lindau geborene Nikolaus Brass hat mit “Wie viel Heimat braucht der Mensch” ein außergewöhnliches musikalisches Opus vorgelegt, das weit über die Konventionen traditioneller Komposition hinausgeht. Inspiriert vom gleichnamigen Essay über Exil und Identitätsverlust von Jean Améry, dessen familiäre Wurzeln in Hohenems liegen, reflektiert das Werk musikalisch den Schmerz des Vertriebenseins und die Zerrissenheit zwischen der Sehnsucht nach Heimat und der Unmöglichkeit, dorthin zurückzukehren.

In einer bemerkenswerten Abkehr von traditioneller Kompositionspraxis überlässt Brass die Vermittlung des emotional aufgeladenen Textes einem Sprecher, während das Orchester subtile musikalische Assoziationen spinnt, die den erzählerischen und emotionalen Gehalt des Essays umspielen. Die eindringliche Lesung von David Kopp verlieh der Aufführung eine zusätzliche emotionale Schicht.

Brass’ Fähigkeit, ungewöhnliche Klanglandschaften zu schaffen, zeugt von seiner meisterhaften Beherrschung des Orchesterapparates. Mit Klängen, die an Sägegeräusche erinnern, verzerrten Dreiklängen, die sonst Harmonie symbolisieren und nun akustisch für die Entfremdung von der Heimat stehen, gelingt es ihm, das Vertraute fremd und nahezu unheimlich erscheinen zu lassen. Diese klanglichen Entscheidungen dienen als Metaphern für die veränderte Wahrnehmung von Heimat und Identität, die Améry in seinem Essay so eindrücklich beschreibt.

Eine besonders ungewöhnliche Szene bot sich dem Publikum am Ende des Werkes, als Wolfgang Wehinger nicht nur sein musikalisches, sondern auch sein handwerkliches Können unter Beweis stellte. In einer seltenen Performance zersägte der Schlagzeuger unter Beobachtung des gesamten Orchesters und des Publikums auf der Bühne ein Brett in mehrere Teile.

Nach der Pause folgte mit “Harold en Italie” von Hector Berlioz ein musikalisches Spektakel, das die Zuhörer in die ganze Pracht und Komplexität von Berlioz’ meisterhafter Komposition entführte. Berühmt für seine komplexen Orchesterarrangements und die bahnbrechende Rolle der Solobratsche, die sowohl als Erzählerin als auch als Protagonistin fungiert, stellt dieses Werk höchste Anforderungen an die Interpreten. Um die musikalischen Schichten und die erzählerische Kraft dieses Werkes zum Leben zu erwecken, bedarf es außergewöhnlicher Präzision, emotionaler Intensität und eines ausgefeilten technischen Könnens.


Nikita Gerkusovs Interpretation der Figur des Harold zeichnete sich durch eine bestechende Bandbreite an Dynamik und Ausdrucksnuancen aus, die von zarten, fast meditativen Passagen bis hin zu kraftvollen, leidenschaftlichen Ausbrüchen reichte. Seine Fähigkeit, die vielschichtigen Stimmungen und Motive des Werkes auszuloten, verlieh der Aufführung eine außergewöhnliche Intensität.

Bemerkenswert war auch Gerkusovs unkonventionelles Auftreten, das mit einem Gang durch den Zuschauerraum begann und sich durch seine bewegliche Positionierung auf der Bühne während des gesamten Stückes fortsetzte. Diese theatralische Geste passte perfekt zu Berlioz’ visionärer Komposition, welche die Bratsche in den Mittelpunkt stellt und das Instrument als Medium nutzt, um die inneren Kämpfe und Sehnsüchte des Protagonisten Harold auszudrücken.

Berlioz’ Partitur reicht von zarten Streicherpassagen über farbenreiche Melodien der Holzbläser bis hin zu den kraftvollen Einsätzen der Blechbläser und des Schlagwerks. Nicht zuletzt dank des großartigen Dirigats von Jonathan Brandani navigierte das Orchester mit beeindruckender Synchronität durch diese komplexe Partitur.