Sex- und Gewaltszenen schocken Publikum

18 Besucher der Oper des Bregenzer Komponistin Doderer mussten wegen Übelkeit und Schockzuständen behandelt werden, in drei Fällen wurde ein Arzt hinzugezogen.
Stuttgart Mit „Sancta“ präsentierte die Staatsoper Stuttgart am vergangenen Samstag einen einzigartigen Opernabend. Unter der Leitung der österreichischen Choreografin Florentina Holzinger entstand eine Aufführung, die die Grenzen zwischen Oper, Performance und katholischer Messe auf faszinierende Weise verwischte. Werke von Paul Hindemith, Johann Sebastian Bach, Johanna Doderer und anderen wurden zu einer mitreißenden Aufführung vereint.

Der Abend begann mit Paul Hindemiths Einakter „Sancta Susanna“ aus dem Jahr 1921. In nur 30 Minuten entfaltet sich ein Drama, das religiöse Tabus und seelische Konflikte durchleuchtet. Die Nonne Susanna, eindrucksvoll verkörpert von der Sopranistin Caroline Melzer, gerät in eine innere Krise, in der sie sich gegen ihre asketische Lebensweise auflehnt und von unerwarteten Leidenschaften überwältigt wird. Die düstere Klosteratmosphäre reflektiert ihre innere Zerrissenheit und schafft ein intensives musikalisches und szenisches Erlebnis.

Florentina Holzinger nimmt Hindemiths Werk als Ausgangspunkt und reichert es mit Elementen der katholischen Messe, gesprochenen Texten und starken performativen Szenen an. Holzinger, bekannt für ihre provokanten und genreübergreifenden Inszenierungen, ist in ihrem Schaffen stets auf der Suche nach Spektakel, Magie, aber auch nach Möglichkeitsräumen. Fast rockmusikalisch lotet sie die Grenzen des Transzendenten aus und stellt gleichzeitig institutionelle Konventionen in Frage.

Einige Performances hinterlassen einen besonders starken Eindruck: Florentina Holzinger selbst schwingt sich wie einst FLATZ in eine überdimensionale Glocke und erzeugt mit ihrem Körper Orgelklänge – ein visuell beeindruckendes und symbolträchtiges Bild. Eine andere Darstellerin schneidet sich live ein Stück Fleisch aus dem Körper, während das Publikum dies in Nahaufnahme auf Videoleinwänden verfolgt. Später wird das Fleisch gegrillt und als „letztes Abendmahl“ serviert. Zwei Männern werden Nägel und eine Aufhängevorrichtung in die Rückenhaut getrieben. Bei diesen intensiven Bildern stöhnen einige Zuschauer laut auf, wenden sich ab, um nicht hinsehen zu müssen, andere verlassen den Saal, 18 Besucher müssen wegen Übelkeit und Schockzuständen behandelt werden.

Musikalisch bietet der Abend eine beeindruckende Vielfalt. Choräle und klassische Musik wechseln sich mit hartem Rock und Techno ab. Die Bregenzer Komponistin Johanna Doderer steuert eigene Kompositionen und Bearbeitungen von Messsätzen von Bach, Rachmaninow und Gounod bei. Ihre Werke wie „Agnus Dei“, „Credo“ und „Benedictus“ verstärken die dramatische Spannung und die emotionalen Höhepunkte der Aufführung. Doderers Fähigkeit, traditionelle Formen mit modernen Klängen zu verbinden, verleiht dem Abend eine besondere musikalische Komplexität.

Die Bühne selbst ist ein visuelles Spektakel: Darstellerinnen auf Rollschuhen bewegen sich auf einer großen Skaterbahn und symbolisieren Freiheit und Unabhängigkeit. Eine riesige Kletterwand, die die Sixtinische Kapelle darstellt, wird zum Schauplatz symbolischer Zerstörung und Neugestaltung – ein starkes Bild für Transformation und Erneuerung. Ein gewaltiger Roboterarm schwingt über die Szenerie und lässt die Darstellerin des Papstes in der Luft schweben und rotieren, als wäre sie zwischen Himmel und Erde gefangen – ein eindrucksvolles Symbol für Ohnmacht und zugleich göttliche Erhabenheit.

„Sancta“ ist keine Oper im klassischen Sinne, sondern eine faszinierende Verschmelzung von Messe, Performance und musikalischer Wucht. Die Aufführung reflektiert den persönlichen und gesellschaftlichen Umgang mit Körper, Sexualität und Glauben. Sie fordert das Publikum heraus, sich mit Themen wie Scham, Schmerz, Sünde und Befreiung auseinanderzusetzen.

Düster und geheimnisvoll, laut und exzessiv, humorvoll und beglückend – ein intensiver Opernabend, der bis zum Schluss fesselt. Die knapp drei Stunden vergehen wie im Flug, mit Momenten des Erschreckens, des Staunens, gefolgt von Augenblicken, in denen man kaum hinsehen mag. Ein wahrhaft außergewöhnliches Erlebnis!