Wo Stille pulsiert und Bewegung sich entfaltet

Kultur / 07.04.2025 • 13:34 Uhr
Bregenzer Frühling Shahar Binyamini
Mit New Earth und Bolero X zeigt Shahar Binyamini, wie Stille ins Sprechen kommt und Masse zur Bewegung wird. udo mittelberger

Shahar Binyamini begeistert beim Bregenzer Frühling mit New Earth und Bolero X.

Bregenz Mit zwei Arbeiten des israelischen Choreografen Shahar Binyamini setzte der Bregenzer Frühling ein markantes Ausrufezeichen in der zeitgenössischen Tanzlandschaft: Die Uraufführung von New Earth und die monumentale Inszenierung von Bolero X wurden im Festspielhaus zu einem umjubelten Abend voller Energie, Präzision und poetischer Kraft. Zwei Werke, die unterschiedlicher kaum sein könnten – und doch verbunden durch Binyaminis unverwechselbare Handschrift, seine Sensibilität für Bewegung und Struktur, seine Fähigkeit, Körper in Klang und Raum neu zu denken.

Bregenzer Frühling Shahar Binyamini
Ein wunderbar sinnlicher Pas de deux als einer der Höhepunkte von “New Earth”. udo mittelberger

Eine Uraufführung ist immer etwas Besonderes – und New Earth war zweifellos ein gelungener Auftakt. Binyamini, ehemaliges Mitglied der Batsheva Dance Company und Schüler von Ohad Naharin, widmet sich in dem rund einstündigen Stück der Frage, wie wir durch Bewegung neue Realitäten schaffen können. Der Bühnenboden ist mit brauner Erde bedeckt, was dem Geschehen eine archaische Tiefe verleiht – die Spuren der Tänzerinnen und Tänzer bleiben sichtbar, jede Geste hinterlässt eine Spur. Die Natur wird nicht nur thematisiert, sondern physisch auf die Bühne geholt.

Bregenzer Frühling Shahar Binyamini
udo mittelberger

Nach einem ruhigen, fast kontemplativen Beginn setzt nach etwa 20 Minuten eine rhythmische Passage ein, die sich zu einem weichen, wunderschönen Pas de deux verdichtet. Ein erneuter Bruch folgt mit dem Wechsel von orientalisch anmutender Musik zu elektronischen Klängen. Besonders eindrucksvoll: eine fast einminütige Sequenz völliger Stille, in der sich zwei Tänzer langsam bewegen – ein Moment der Verdichtung und des Innehaltens. Das Finale gleicht einem Rausch der Sinne: Farbe, Licht, Bewegung und impulsive Musik verschmelzen zu einem ekstatischen Ausbruch – der jedoch langsam in Dunkelheit und Stille endet. Ein starkes Bild für ständige Erneuerung und zyklisches Werden.

Bregenzer Frühling Shahar Binyamini
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Bolero X setzt dem die Kraft eines kollektiven Bewegungsapparates entgegen. Maurice Ravels ikonisches Werk gilt als eines der Monumente der Musikgeschichte, doch Binyamini verlässt sich keineswegs allein auf dessen hypnotischen Sog. Vielmehr entwickelt er eine kongeniale choreografische Umsetzung, die Ravels repetitiver Struktur mit einer eigenen Dramaturgie begegnet – dicht, energisch, kompromisslos in ihrer kollektiven Wucht. Das Stück bezieht seine Kraft aus der Dynamik der Masse – und aus der Präzision jedes Einzelnen.

Bregenzer Frühling Shahar Binyamini
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Rund fünfzig Tänzerinnen und Tänzer stehen auf der Bühne, ein einziges pulsierendes Kollektiv, das sich mit jeder Wiederholung der Musik neu auflädt. Die Spannung entsteht nicht nur durch Ravels Musik, sondern auch durch die kraftvolle Präsenz der Körper, die wie ein einziger Organismus atmen, sich verdichten, aufbrechen. Der Kreislauf von Werden und Vergehen, von Einheit und individuellem Ausdruck wird körperlich spürbar. Der Raum selbst beginnt zu vibrieren, getragen von Bewegung und Klang.

Bregenzer Frühling Shahar Binyamini
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Die Mitwirkenden stammen mehrheitlich aus dem BA- und Nachdiplomstudium der Zürcher Hochschule der Künste. Mit Präzision, Ausdruck und Hingabe setzten sie Binyaminis Vision um. Wie sehr auf der Bühne auch ein Gemeinschaftserlebnis entstanden war, zeigte sich daran, dass viele der Studierenden nach der Aufführung hinter dem Vorhang hörbar jubelten, sich selbst feierten und die begeisterten Standing Ovations des Publikums genossen.

Bregenzer Frühling Shahar Binyamini
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Shahar Binyamini ist mit diesen beiden Werken eine seltene Verbindung gelungen: Tanz als Form der Erkenntnis, als körperlich erfahrbare Reflexion über Natur, Zeit, Gemeinschaft. Mit dieser Doppelproduktion präsentierte der Bregenzer Frühling nicht nur zwei herausragende Stücke, sondern auch einen Künstler, dessen Werk international Maßstäbe setzt – kraftvoll, intelligent und zutiefst aktuell.

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