Tiefe Einblicke in Ereignisse und Mentalitäten des Jahres 1945

Kultur / 17.04.2025 • 08:57 Uhr
Niemandsland
Kurt Bauers “Niemandsland zwischen Krieg und Frieden”. residenz verlag

“Niemandsland zwischen Krieg und Frieden” und “1945. Schwerer Start in eine neue Zeit”.

Bregenz Neben etlichen historischen Büchern zum Jahr 1945, zum Ende des Krieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, zu Befreiung und Besatzung Österreichs gehen zwei Neuerscheinungen andere Wege. Die Herangehensweise beider Autoren ähneln sich und sind doch recht verschieden. Beide bewältigen die Ereignisse des Jahres 1945 chronologisch und beide wollen dezidiert keine historisch-wissenschaftliche Aufarbeitung bieten. Im Herangehen an ihre Quellen und in der Darstellungsweise unterscheiden sie sich aber erheblich. Während Herbert Lackner, ehemaliger Chefredakteur des Wochenmagazins „Profil“, in seinem Buch „Das Schicksalsjahr 1945“ historisch gesicherte Episoden erzählt, lässt der arrivierte Historiker Kurt Bauer Zeitzeugen/innen aus dem “Niemandsland zwischen Krieg und Frieden“ zu Wort kommen.
Herbert Lackner, ein des Recherchierens kundiger Journalist, hat eine Reihe interessanter Geschichten zu prominenten und weniger prominenten Akteuren und Betroffenen zusammengetragen, spannend aneinander- und ineinandergereiht und damit ein hervorragend lesbares, kenntnisreiches und gewinnendes Buch vorgelegt. In den erzählten historischen Episoden geht es um Opfer und Täter gleichermaßen, um bekannte Männer und tüchtige Frauen, um große Politik und bedrängten Alltag.

Die Darstellung der Ungeheuerlichkeiten der kriegerischen und terroristischen Menschenvernichtung wird durch Schilderung alltäglicher Befindlichkeiten und Nöte der Bevölkerung unterbrochen. Dadurch entsteht ein Leseerlebnis von atemraubender Spannung und lösender Entspannung, von Information und Emotion. Erschütternd sind aber nicht nur Ereignisse wie die Jagd der Mühlviertler Bevölkerung auf russische Gefangene, denen die Flucht aus dem KZ Mauthausen gelungen war, einigermaßen schockierend auch die Antworten von Leopold Figl anlässlich der Befragung durch den britischen Geheimdienst, in welchem der kommende österreichische Bundeskanzler die Russen stets als „die Asiaten“ bezeichnet. Der Rassismus war durch die vierjährige KZ-Haft nicht getilgt worden und auch die von Lackner erhobenen 18.000 russischen Soldaten, die bei der Befreiung Wiens ihr Leben lassen mussten, beeindruckten den größten Teil der Nachkriegsgesellschaft kaum.

Herbert Lackner 1945 – Schwerer Start in eine neue Zeit
Herbert Lackner “1945 – Schwerer Start in eine neue Zeit”. ueberreuter

Unterbrochen werden Lackners Erzählungen von der großen Bühne durch Tagebucheintragungen seiner Mutter, die das Kriegsende als junge Angestellte in Wien erlebte. Ihre Notizen verweisen auf ein relativ unaufgeregtes Leben zwischen kriegerischen Bedrohungen, Sorgen um Angehörige und Lebensmittel bei gleichzeitigen Tanzveranstaltungen, um dem tristen Alltag zu entfliehen.
Kurt Bauers Publikation dagegen basiert auf authentischen Geschichten von 25 ganz verschiedenen Zeitgenossen/innen, die der Autor zum Teil selber sprechen lässt oder deren Geschichten er für die Leser gerafft nacherzählt. Dabei werden die einzelnen Ego-Dokumente nach Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter aufgeteilt und vom Autor gekonnt als epischen Strom arrangiert. Durch die verschiedenen Personen werden ganz unterschiedliche Lebensrealitäten abgebildet. Als nahezu einzige Gemeinsamkeit wird der stete Hunger deutlich. Nur zwei der Tagebuchschreiber/innen sind Personen, die in den Nachkriegsjahren als Schreibende Bekanntheit erlangt haben, nämlich Ingeborg Bachmann und Georg Stefan Troller.

Bei all den schrecklichen Erlebnissen, denen vor allem Frauen in der russischen Besatzungszone ausgesetzt waren, hätte der Blick beispielsweise eines russischen Soldaten, der den gnadenlosen Kampf um Wien mitgemacht hat, ein wenig relativierend beigestellt werden können. Auch das Bild der Tschechen wird durch die ausgewählten Tagebücher sehr deutschzentristisch gemalt. Insgesamt aber bietet das Buch von Kurt Bauer eine Sammlung von Geschichten, die die Ereignisse, Befindlichkeiten und Hoffnungen im Osten und Süden Österreichs sehr persönlich und gleichzeitig recht vielschichtig abdecken. Nur wenige konnten den Sommer 1945 so wohlgemut wie Ingeborg Bachmann erleben: „Ich lebe ja, ich lebe. O Gott, frei sein und leben, auch ohne Schuhe, ohne Butterbrot, ohne Strümpfe, ohne, ach was, es ist eine herrliche Zeit.« Ganz anderes notierte eine andere junge Kärntnerin, vormalige BDM-Führerin, anlässlich der Befreiung: „Nun beginnt die Hetzpropaganda gegen den Nationalsozialismus.“ So konträr waren die Stimmungslagen, die im neuen Österreich irgendwie in Einklang gebracht werden mussten.

Beide Bücher, das mehr faktische von Herbert Lackner und das auf persönlichen Erlebnissen basierende von Kurt Bauer, erweitern den Blick auf dieses Schicksalsjahr, gewähren tiefe Einblicke in Verhältnisse und Mentalitäten. Sie bilden mit ihrer unkonventionellen Herangehensweise eine packende, bewegende und zugleich anregende Lektüre; auch wenn die Verhältnisse und Ereignisse im westlichen Österreich in den Erzählungen nicht vorkommen.

die bücher

Kurt Bauer: Niemandsland zwischen Krieg und Frieden – Österreich im Jahr 1945. Residenz Verlag 2025.


Herbert Lackner: 1945. Schwerer Start in eine neue Zeit. Ueberreuter 2025.