Ekstase als Form

Kultur / 01.06.2025 • 12:58 Uhr
bregenzer frühling
In „Static Shot” verzichtet Maud Le Pladec bewusst auf jede narrative Entwicklung. laurent philippe

Zwei choreografische Zustände zwischen Rausch und Ritual beim Bregenzer Frühling.

Bregenz Ein Tanzabend wie ein Stromstoß – elektrisierend, präzise und von ungeheurer sinnlicher Dichte. Zwei Werke, zwei choreografische Kosmen, die aus unterschiedlichen ästhetischen Universen stammen und sich doch in einer gemeinsamen Idee berühren: der Bewegung als Trägerin kulturellen Gedächtnisses, als rituelle Geste der Befreiung, als verdichteter Ausdruck kollektiver Energie.

bregenzer frühling

„Static Shot“ wird zu einer Studie über die Grenzen des Aushaltbaren – und zu einem hypnotischen Zustand, dem man sich kaum entziehen kann. laurent philippe

Mit der österreichischen Erstaufführung von Maud Le Pladecs „Static Shot“ und dem rauschhaft-ekstatischen „A Folia“ des portugiesischen Choreografen Marco da Silva Ferreira präsentierte das CCN – Ballet de Lorraine im Rahmen des Bregenzer Frühlings einen Abend von konzeptioneller Strenge und körperlicher Wucht – ein Ereignis, das im Bregenzer Festspielhaus zugleich in tänzerischer Präzision und emotionaler Intensität vibrierte.

In „Static Shot” verzichtet Maud Le Pladec bewusst auf jede narrative Entwicklung. Was sie stattdessen erschafft, ist ein choreografisches Kontinuum, ein Zustand gespannter Dauer, der ohne Anfang, Mitte oder Ende auskommt – eine Bewegung ohne Erlösung, ein Atem, der nie vollständig aussetzt.

Schon die musikalische Basis mit treibenden elektronischen Klängen von Chloé Thévenin und Pete Harden sorgt für eine konstante Aufladung, eine Vibration, die sich in die Körper der Tänzerinnen und Tänzer überträgt und von dort aus das Publikum erfasst.

Formal streng, in der Raumstruktur beinahe skulptural, inszeniert Le Pladec den Tanz als kollektiven Körper – als Block aus Klang, Licht und Bewegung. Dabei gelingt es dem Ensemble des Ballet de Lorraine, diesen hochenergetischen Zustand nicht nur zu halten, sondern ihn in immer neue Facetten zu überführen – zwischen Erschöpfung und Ekstase, zwischen Disziplin und tranceartiger Auflösung.


„Static Shot“ wird so zu einer Studie über die Grenzen des Aushaltbaren – und zu einem hypnotischen Zustand, dem man sich kaum entziehen kann.

Im zweiten Teil des Abends schlägt Marco da Silva Ferreira einen gänzlich anderen Ton an – und schafft doch ein Echo auf die forcierte Statik von Le Pladec. Mit „A Folia” greift er ein kulturelles Phänomen des 15. Jahrhunderts auf: die Folia, ein ursprünglich ländlicher Festtanz, verbunden mit Fruchtbarkeit, Musik und körperlicher Ausgelassenheit, der später auch in höfischen Kontexten gefeiert wurde.

bregenzer frühling
Im zweiten Teil des Abends schlägt Marco da Silva Ferreira einen gänzlich anderen Ton an. laurent philippe

Ferreira interessiert sich jedoch weniger für historische Rekonstruktion als für die Frage, was von diesem anarchischen, ekstatischen Impuls im zeitgenössischen Tanz weiterlebt. Die Antwort ist: viel. Sie ist laut, körperlich, unwiderstehlich. Zu pulsierenden elektronischen Klängen von Luís Pestana wirbelt ein hochpräsentes Ensemble über die Bühne: kraftvoll, kantig, wild. Die Bewegungen erinnern an folkloristische Muster, zerfallen zugleich in tänzerische Fragmentierungen, brechen aus in freie Körperrituale, die das Fest nicht nachstellen, sondern neu befragen.

Die Kostüme – in ‚A Folia‘ von Aleksandar Protic, in ‚Static Shot‘ von Christelle Kocher (KOCHÉ) – spiegeln diese Dialektik von Historie und Gegenwart, von folkloristischer Anmutung und urbaner Kante, von Maskierung und Identitätsbehauptung auf eindrucksvolle Weise wider.

Was dieser Doppelabend im Rahmen des Bregenzer Frühlings leistet, ist bemerkenswert: Er stellt nicht nur zwei herausragende choreografische Handschriften gegenüber, sondern lässt sie miteinander ins Gespräch treten – über Ekstase und Form, über Ritual und Rebellion, über den Tanz als Medium kultureller Erinnerung und Transformation.

Dass das Publikum im vollbesetzten Festspielhaus diesen Abend mit jubelndem Applaus und stehenden Ovationen feierte, war mehr als gerechtfertigt.