Intensität, Achtsamkeit und Ernsthaftigkeit

Ein Gespräch mit Nils Goltermann über seine Erinnerungen an 30 Jahre Schubertiade.
Schwarzenber Vor 3 Jahrzehnten begegnete Nils Goltermann aus Thannhausen (Deutschland) erstmals der Schubertiade – seitdem lässt sie ihn nicht mehr los. Und das nicht nur, weil Musik seit jeher ein wesentlicher Bestandteil seines Lebens ist.
Wie kam es, dass Sie vor 30 Jahren zum ersten Mal zur Schubertiade gereist sind?
Ein Tag ohne Musik ist für mich ein verlorener Tag. Doch es gab eine Phase in meinem Leben, in der Konzerte keine Selbstverständlichkeit mehr waren – sie wurden vom Alltag, vom Familienleben und von Verantwortung überlagert. Und dann war da dieser eine Moment der Rückkehr: eine Begegnung mit meiner ältesten Tochter am Bödele – und plötzlich war sie wieder da, die Musik. Genauer: Schubert. Und mit ihm der Zauber jenes Ortes ganz in der Nähe, in Schwarzenberg, an dem sich Natur und Klang nicht nur begegnen, sondern einander durchdringen, verweben und verstärken. Ich kenne keinen anderen Ort, an dem sich diese Symbiose so tiefgreifend erleben lässt.

Was hat Sie damals so beeindruckt, dass Sie seither Jahr für Jahr zurückkehren?
Es war die Verbindung – nicht nur zwischen Musik und Natur, sondern auch zwischen mir und mir selbst. Ich bin beruflich stark eingespannt und arbeite auch mit 78 Jahren noch mit großer Leidenschaft. Doch hier oben, inmitten dieser Landschaft, dieser Stille, dieser Klarheit, fällt all das von mir ab. Die Musik erreicht mich anders – unmittelbarer, tiefgründiger. Ich höre bewusster. Ich gehe stundenlang wandern, lasse das Gehörte nachklingen und denke und spüre nach. In dieser Resonanz finde ich etwas, das mir andernorts verloren gegangen ist: Intensität, Achtsamkeit und Ernsthaftigkeit. Hier wird Musik nicht nur dargeboten, sondern wirklich erlebt.
Gibt es einen bestimmten Künstler, ein Ensemble oder ein Konzert, das Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Viele. Wenn ich jedoch einen Namen hervorheben müsste, dann wäre es Alfred Brendel. Um ihn herum hat sich im Lauf der Jahre ein ganzer musikalischer Kosmos entfaltet, getragen von einer Haltung, die weit über das bloße Interpretieren hinausreicht. Pianisten wie Paul Lewis oder András Schiff stehen in dieser geistigen Linie – sie spielen nicht nur, sie denken, verlebendigen und tragen weiter. Und dann ist da Igor Levit, dessen Spiel mich an einen Moment auf meinem morgendlichen Weg erinnerte: das erste Licht des Tages, ein Sonnenstrahl, der ein einzelnes Blatt im Schatten trifft. Dieses zarte Wechselspiel von Licht und Dunkel war auch in seiner Schubert-Interpretation zu spüren.

Was macht für Sie die Schubertiade im Vergleich zu anderen Festivals für klassische Musik so einzigartig?
Die Entschleunigung. Hier geht es nicht um Konzertmarathons oder kulturelle Pflichterfüllung, sondern ums bewusste Hören. Die Landschaft ist Teil des Erlebnisses. Ich habe viele Festivals besucht und war jahrzehntelang Abonnent in München. Doch dort hetzte ich aus dem Büro, ärgerte mich über den Verkehr, suchte einen Parkplatz und wenn ich dann endlich im Saal saß, hatte ich das Gefühl, schon erschöpft zu sein. Hier ist das anders: Ich bin ganz da – offen, ruhig und bereit.
Welche Rolle spielen für Sie die Landschaft und das kulturelle Umfeld Vorarlbergs beim Schubertiade-Erlebnis?
Eine große. Ich bewundere die Architektur, das Handwerk, das Kunsthaus in Bregenz und vieles mehr – überhaupt die Ernsthaftigkeit und Dichte kultureller Arbeit in dieser Region. Es ist, als atmete die Gegend selbst Kultur. Und zugleich herrscht eine wohltuende Ruhe, kein Lärm, kein Pomp, sondern ein tiefes Bewusstsein für das Wesentliche. Für mich ist das der ideale Boden, auf dem Musik wachsen und sich entfalten kann.