Poesie in zarten Farben

Anselm Kiefers Aquarelle im neuen Buch „Wasserfarben“ und in einer Ausstellung.
Schwarzach Anselm Kiefer zählt zu den bedeutendsten Künstlern der Gegenwart. Geboren 1945 im zerstörten Donaueschingen, widmet sich sein Werk seit Jahrzehnten den Spuren deutscher Geschichte, dem kollektiven Gedächtnis und der Frage, wie Kunst Erinnerung bewahren kann, ohne zu verklären. Kiefer arbeitet mit schweren Materialien – Blei, Beton, Asche, Erde –, die in seinen monumentalen Gemälden, Installationen und Skulpturen wie reliquienhafte Zeugen der Vergangenheit erscheinen. Beeinflusst von Paul Celans Dichtung und der deutschen Romantik, verwandelt Kiefer die Leinwand in ein Schlachtfeld zwischen Mythos und Wirklichkeit, Zerstörung und Erneuerung. Seine Arbeiten sind oft düster, verwittert, archaisch – doch gerade darin liegt ihre Wucht.

Das nun erschienene Buch „Anselm Kiefer: Wasserfarben“ offenbart eine weitgehend unbeachtete Seite seines Schaffens: die Welt der Aquarelle, deren poetische Leuchtkraft und formale Zartheit eine erstaunlich andere Tonlage anschlagen, ohne den thematischen Tiefgang seiner großen Arbeiten zu verlieren.

Kiefers Aquarelle sind keine Skizzen oder Nebenprodukte – sie bilden ein eigenständiges, in sich geschlossenes Œuvre. In ihren leichten, oft transparenten Farbschichtungen entwickelt der Künstler eine Bildsprache, die Geschichte, Mythos, deutsche Romantik und moderne Poesie in einem fragilen, aber klar formulierten Gleichgewicht vereint. Diese Werke moralisieren nicht, sie belehren nicht – sie laden ein zur Betrachtung, zum Nachdenken, zum Fragen. Schriftzüge, oft in kindlicher Handschrift oder verschiedenen Sprachen eingestreut, verweisen auf literarische, philosophische oder religiöse Kontexte, öffnen Denk- und Deutungsräume. Die Vergangenheit erscheint dabei stets als offenes Feld – als Spiegel für Gegenwart und Zukunft.

Die Ausstellung im Nolde Museum Seebüll – aus Anlass von Kiefers 80. Geburtstag – zeigt eine Auswahl dieser Aquarelle, die im Herbst auch in der Galerie Bastian in Berlin zu sehen sein wird. Das begleitende Buch dokumentiert diese Werkgruppe umfassend: Es führt von den Anfängen Kiefers in den späten 1960er-Jahren bis zu jüngsten Arbeiten, zeichnet seine künstlerische Entwicklung nach und betont zugleich die Konstanz seiner Themen: Deutschland als geschichtliches Rätsel, der Mensch als mythologische Figur, Außenseiter als Sinnbilder einer fragilen Existenz.

Dabei wird deutlich: Kiefers Aquarelle sind nicht weniger tiefgründig als seine monumentalen Werke, aber sie sind leiser, beweglicher – quecksilbrig im besten Sinne. Ihre leuchtenden Farben und die fragile Materialität kontrastieren die bleischwere Symbolik vieler seiner Gemälde. Es ist, als träten in diesen kleinen Formaten die Kräfte des Merkur hervor – der alchemistische Gegenspieler des Saturn, der Gott der Dichtkunst, der Verwandlung und des Lichts.
