Wenn Virtuosität Perfektion erreicht

Simone Lamsma begeistert beim Meisterkonzert: Ein Solistenauftritt von seltener Stringenz.
Bregenz Kurz vor Weihnachten betrat das Estonian National Symphony Orchestra unter der Leitung seines Chefdirigenten Olari Elts die Bühne des Festspielhauses, um das zweite Meisterkonzert zu gestalten. Elts, der die estnische Orchesterkultur seit Jahren maßgeblich mitgestaltet, formte einen musikalischen Bogen, der von der meditativen Strenge Arvo Pärts über die existenzielle Virtuosität von Jean Sibelius’ Violinkonzert bis zur weiten architektonischen Kraft der Zweiten Sinfonie führte.

Zu Beginn widmete sich das Orchester Arvo Pärts „Cantus in Memoriam Benjamin Britten“, einem Werk des Gedenkens, der Reduktion und des stillen Lichts. Die estnischen Musiker, die mit dieser Sprache eng vertraut sind, ließen die Töne mit kontrollierter Dichte aufscheinen. Der tiefe Glockenschlag, der das Werk einrahmt, stand als ruhender Pol über dem allmählichen Verdichten der Stimmen. Elts entschied sich für eine langsame Entwicklung, die dem Stück seine Gravität verlieh, ohne in Pathos oder Sentimentalität zu kippen. So entstand ein klanglicher Raum, in dem Erinnerung, Stille und Würde ineinandergriffen – ein zurückhaltender, eindrucksvoller Beitrag zum 90. Geburtstag des Komponisten.
Anschließend betrat mit Simone Lamsma eine Geigerin das Podium, deren Spiel jene seltene Verbindung aus technischer Souveränität, geistiger Klarheit und kontrollierter Leidenschaft erkennen lässt, aus der musikalische Perfektion erwächst. Die Niederländerin, die bereits mit vielen der weltweit führenden Orchester zusammengearbeitet hat, darunter dem New York Philharmonic und dem London Symphony Orchestra, zeigte jedoch keine Spur von Überheblichkeit. Ihr Zugriff auf Jean Sibelius’ Violinkonzert war ein konzentrierter Akt musikalischer Durchdringung, getragen von Genauigkeit und innerer Spannung. Lamsma entzog dem Werk bewusst jene romantische Weichzeichnung, die ihm oft anhaftet, und stellte stattdessen seine architektonische Strenge und innere Logik in den Vordergrund. Bereits der eröffnende Solopart, tastend und weit gespannt, erhielt bei ihr eine präzise Balance aus Präsenz und Zurückhaltung. Die Linie wirkte wie ein gedanklich geführter Impuls, der sich aus der Stille löste und jederzeit unter Kontrolle blieb. Im Adagio fand die Geigerin zu einem besonders überzeugenden Ausdruck. Anstelle demonstrativer Emotionalität entwickelte sie eine zurückgenommene Wärme, die nicht aus dem Ausstellen des Gefühls entstand, sondern aus dessen Verdichtung. Das von Olari Elts mit großer Aufmerksamkeit geführte Orchester trug diese Haltung mit fein abgestufter Klanglichkeit mit und schuf einen Resonanzraum, in dem Solistin und Ensemble in einen stillen Dialog traten. Auch das Finale, häufig als bloß virtuoser Kehraus missverstanden, gewann unter Lamsmas Zugriff an Kontur und innerer Notwendigkeit. Ihre technische Sicherheit war jederzeit spürbar, doch sie stellte sich nie in den Vordergrund. Entscheidender war die Haltung, mit der sie den von Sibelius angelegten Konflikt gestaltete. Dieser erschien nicht als heroische Zuspitzung, sondern als zwingender Prozess, beinahe als existenzielle Konsequenz, in der Virtuosität nicht zur Schau gestellt, sondern in den Dienst einer stringenten musikalischen Argumentation gestellt wurde.
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Was an diesem Abend als Perfektion erfahrbar wurde, hatte wenig mit makelloser Oberfläche zu tun, sondern mit einer Haltung bewusster Begrenzung. Igor Strawinskys Satz „Je mehr ich mich beschränke, desto mehr befreie ich mich“ schien über dieser Interpretation zu stehen. Simone Lamsma setzte nicht auf Expansion, sondern auf Kontrolle, nicht auf demonstrative Leidenschaft, sondern auf konzentrierte Energie.

Nach der Pause kehrte das Orchester zu Sibelius zurück und spielte die Zweite Sinfonie. Die thematischen Keime im ersten Satz entfalteten sich mit Ruhe, frei von demonstrativer Monumentalität. Im zweiten Satz betonte Elts den dunkleren Tonfall, ließ die tiefen Streicher mit erzählerischem Gewicht sprechen und die Bläser wie Signale innerer Auseinandersetzung erklingen. Das Scherzo mündete in ein Finale, das Elts konsequent aus dem Material entwickelte. Auf überhöhte Gesten verzichtete er, stattdessen gestaltete er den langen Schlussbogen mit klanglicher Disziplin und Ausgewogenheit.