Der Mann mit den Bäumen

Leserbriefe / 20.05.2022 • 17:27 Uhr
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In Zeiten großer Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht stellt sich die Frage, ob ein einzelner Mensch die Welt retten kann. Vielleicht helfen uns da Erzählungen, in denen dies geschieht und die unsere Gedanken in eine neue Richtung lenken.

So eine Geschichte hat Jean Giono geschrieben. Als junger Mann unternimmt er kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Wanderung durch das karge Bergland der Provence. Auf der Suche nach Wasser, das ihm ausgegangen war, trifft er einen Schafhirten. Dieser gibt ihm zu trinken und lässt ihn in seiner Hütte übernachten. Neugierig geworden, was diesen Mann dazu bewogen hat, ein Leben in dieser Einöde zu führen, bleibt er einige Tage bei ihm. Und er erfährt, weshalb Elzéard Bouffier, so heißt der Schäfer, sich für ein einsames Leben entschieden hat. Sein einziger Sohn war gestorben und einige Jahre später auch seine Frau. Da beschloss er, sein Zuhause, einen Bauernhof in fruchtbarer Ebene, zu verlassen und in die Hügel zu ziehen. Er verkaufte alles und nahm nur seine Schafe und den Hund mit sich.

Unbeirrbar

Die Gegend, in der er sich niederließ, glich damals einer Wüste. Außer wildem Lavendel wuchs dort nichts. Gegen die Dürre und Trockenheit wollte er etwas unternehmen. Er ging in seiner alten Heimat auf die Suche nach Eicheln, kam zurück und begann sie mit großer Sorgfalt zu prüfen und auszusortieren.

Am nächsten Morgen nimmt er einen Sack voll Eicheln und zieht los. Die Schafe überlässt er der Obhut seines Hundes. An geeigneter Stelle fängt er an, mit einer Eisenstange ein Loch in den steinigen Boden zu graben, legt eine Eichel hinein, drückt es mit Erde zu. So pflanzt er Eichen – Tag für Tag, Woche für Woche. Nach drei Jahren sind es 100.000. Er hofft, dass in der Kargheit wenigstens 10.000 durchkommen werden.

Auch wenn er nicht weiß, wem diese Gegend gehört, verfolgt er unbeirrbar seine Idee. Die Veränderung geht langsam vor sich. Das Werk dieses Menschen bleibt unbeachtet. Die Jäger und Förster denken an eine Laune der Natur.

Selbstlos

Seine beharrliche Selbstlosigkeit und die friedliche regelmäßige Arbeit schenken dem alt gewordenen Mann eine Heiterkeit des Herzens und eine starke Gesundheit. In mehr als vierzig Jahren hat er so viele Bäume gepflanzt, dass ein ganzer Wald entstand. Nicht nur das: Unzählige Wurzeln halten jetzt den Regen fest und die ausgetrockneten Bachbette führen wieder Wasser, Insekten und Vögel kehren zurück. Verfallene Mauern werden abgetragen und neue Häuser gebaut. Junge Familien ziehen ein, Kinder spielen auf der Wiese, Blumen und Gemüse wachsen in den Gärten. Die Leute lachen wieder und haben Freude an den Festen. Ein ganzes Dorf entsteht und niemand weiß, wem sie dieses Glück zu verdanken haben. Als Elzéard Bouffier im Alter von 89 Jahren stirbt, hat er mit seiner schwachen Kraft aus einer Steppe ein Stück „Gelobtes Land“ geschaffen.

Jean Giono schrieb seine Erzählung im Jahr 1953. Sie wurde in viele Sprachen übersetzt, verbreitete sich rasch und fand nicht nur in der grünen Bewegung viel Anklang. Im ganzen Land wurden nach dem Vorbild Bouffiers Aufforstungsprogramme gestartet. Die Behörde wollte wissen, wo dieses Landstück liegt, dem der Mann zu blühendem Leben verholfen hat. Man wollte den Wald unter Naturschutz stellen, dem Gründer ein Denkmal setzen und ein Ehrengrab stiften. Auch die Tourismusbranche witterte Geschäfte. Jean Giono schrieb ihnen einen Brief: „Leider muss ich Sie enttäuschen, Elzéard Boffier ist eine erfundene Person. Mein Ziel war es, die Liebe zu Bäumen oder besser, die Liebe zum Pflanzen von Bäumen zu fördern … Misst man die Sache am Resultat, so ist das Ziel durch diese erfundene Person erreicht worden.“ Es gibt Geschichten, die sind nicht wirklich geschehen, aber sie sind trotzdem wahr, weil sie Leben verändern.

Aus klein wird groß

Im Neuen Testament gibt es das Gleichnis vom Senfkorn, „das ein Mensch nahm und auf seinen Acker säte; das ist das kleinste unter allen Samenkörnern; wenn es aber gewachsen ist, so ist es größer als alle Kräuter und wird ein Baum, so dass die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen in seinen Zweigen“ (Matthäus 13, 31-32). Jesus spricht hier vom Reich Gottes und hat damit Hoffnung in die Herzen der Menschen gepflanzt, denn so klein und bedeutungslos wie ein Senfkorn fühlen sich viele bis heute. Sein Gleichnis erinnert an den Mann, der Bäume pflanzte. Ein einzelner Mensch kann etwas zum Guten verändern, eine einfache, schlichte Tat kann, wenn sie beharrlich immer und immer wieder in Angriff genommen wird, unschätzbare Folgen haben.

Wolfgang Olschbaur, evangelischer Pfarrer i. R., Schwarzach
Wolfgang Olschbaur, evangelischer Pfarrer i. R., Schwarzach