„Eine andere Ansicht der Kirche“
Zu den „Gedanken zum Sonntag“
von P. Martin Werlen, VN vom 24./25. 9.:
Der Propst bezieht sich offenbar auf die Geschichte vom reichen Jüngling, wie sie im Matthäus 19 geschildert wird. Ich lese: „Arm sind vor allem diejenigen, die in unseren Augen arm und wertlos sind. Die Neigung ist da, ihnen mit Verachtung zu begegnen, das heißt wörtlich, an ihnen vorbeizuschauen.“ Eine für mich sonderbare Aussage. Wer schaut verachtungsvoll an ihnen vorbei? Unser schlechtes Gewissen und unsere Ohnmacht, denke ich. Äußerst schwer ist es, Liebe zu den Armen in Geldsummen zu beweisen; vor allem, wenn man viele Güter besitzt. Ist die heutige Kirche nicht mit dem reichen Jüngling verwandt, so wie alle Menschen es sind? Unsere Augen können unmöglich die Realität der Armut übersehen. Wer verachtet die zahlreichen Ertrunkenen im Mittelmeer, die unmenschlich überfüllten Auffanglager oder die alte, arme Frau, die zehn Semmeln und 20 Hundefutterdosen kauft (selber mehrmals beobachtet)? Was die spirituell Heimatlosen, von der Kirche zu lange Ausgeschlossenen betrifft, so begrüße ich die endliche Verabschiedung von den Vorurteilen. Kehrt sich etwa das Thema des Verlorenen Sohnes um? Kann man bald das gemästete Kalb (vitulus saginatus) schlachten, um die Rückkehr der verlorenen Mutter zu feiern?
Marie-Thérèse Mercanton, Bludenz