Was mich überrascht

Mutter Teresa von Kalkutta (1910-1997) brachte einer Familie in Kalkutta eine Schale Reis. Die Frau nahm das Geschenk dankbar entgegen und ging mit der Schale hinaus. Als sie zurückkam, war nur noch die Hälfte in der Schale. Mutter Teresa frage sie, wo sie jetzt hingegangen sei. Diese antwortete: „Ich bin zur Nachbarin gegangen und habe ihr die Hälfte gegeben. Sie sind auch arm.“ Als Mutter Teresa diese Geschichte erzählte, meinte sie: „Ich war nicht erstaunt, dass sie geteilt hat. Was mich überrascht hat: Dass sie wusste, dass die Nachbarn auch arm sind.“
Ein Highlight in Vorarlberg
Diese Geschichte fiel mir ein, als ich in der vergangenen Woche „Licht ins Dunkel“ näher kennenlernen durfte. In diesem Jahr wurden wir über die Medien mit sehr viel Elend konfrontiert, denken wir nur an den abscheulichen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, das Elend in Jemen und Syrien, die vielen Naturkatastrophen, die Verachtung der Menschen durch die Regierenden in Afghanistan und Iran. In all diesen Krisengebieten engagieren sich viele Menschen auch aus unserem Land – vor Ort oder mit finanzieller Unterstützung. Und da kommt gegen Schluss des Jahres die Aktion «Licht ins Dunkel» mit einer 50-jährigen Geschichte. Sie bringt es fertig, dass auch heute die Not der Nachbarinnen und Nachbarn wahrgenommen wird. Das Engagement aller – von den einfachsten Leuten bis zu den Managern, von Medienleuten bis zu Künstlerinnen und Künstlern, von den Schulen bis zur Polizei ist beeindruckend. Das ist für mich ein Highlight meiner Zeit in Vorarlberg. Das ist es, was mich überrascht.
Kitt unserer Gesellschaft
Ich fragte mich, ob dies nach all den Herausforderungen des zu Ende gehenden Jahres noch eine Chance hat. Die Überraschung ist groß. Das Spendenvolumen ist riesig. Dies in einer Zeit, in der die Not anderer Menschen von uns einiges abfordert, vor allem über die steigenden Energiepreise. Allerdings habe ich es da mit Mutter Teresa von Kalkutta: Was mich erstaunt ist nicht so sehr die große Bereitschaft zum Teilen. Die kenne ich auch aus anderen Ländern. Was mich überrascht: Dass die Menschen wissen, dass auch unter den Nachbarn Menschen sind, die Unterstützung dringend nötig haben. Diese Sorge füreinander, die sich in einem kreativen Engagement auf allen Ebenen zeigt, ist der Kitt unserer Gesellschaft. Das ist ein großer Wert. Das ist praktizierter Glaube. Aber bevor ich sorgen kann, muss ich wahrnehmen, dass jemand in großer Sorge ist. Das ist es, was mich überrascht.
Zuversichtlicher Ausblick
Die Erfahrung von „Licht ins Dunkel“ lässt zuversichtlich ins neue Jahr gehen. Sie zeugt davon, was uns an Weihnachten verheißen wird: „Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht; über denen, die im Land des Todesschattens wohnten, strahlte ein Licht auf“ (Jes 9,1). Es gibt hier viele Menschen, die die Not der andern wahrnehmen und bereit sind, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu helfen. Die Kreativität ist überwältigend – über alle Generationen und Schichten unserer Gesellschaft. Die Menschen engagieren sich mit den Gaben, die ihnen anvertraut sind. Niemand soll allein sein. Da schwinden manche Nebel. Das ist es, was mich zuversichtlich stimmt. Das ist es, was mich überrascht. Vergelt’s Gott!
