Kirche umgekehrt
Spirituelle Wohnecke. ⇒Martin Werlen
In der „Langen Nacht der Kirchen“ durften wir in der Propstei Menschen willkommen heißen, die unter der langen Nacht der Kirchen leiden. „Gibt es solche Menschen?“, fragte eine Journalistin ganz überrascht. Selbstverständlich! Sogar sehr viele. Weil sie unter der langen Nacht der Kirchen leiden, haben sie sich bereits verabschiedet oder sie distanzieren sich. Die Gründe sind: es geht nicht vorwärts; die Kirche bleibt still, wo sie ihre Stimme erheben sollte; sie schläft; sie schließt Menschen aus, die zu den Lieblingen Gottes gehören. Die Begegnung und der Austausch waren sehr berührend. Da waren nicht Menschen, die alles besser wissen, sondern Menschen, die Gott suchen.
Leben, was wir feiern
Es war ein tiefgehendes geistliches Gespräch. Miteinander suchten wir uns dem anzunähern, was Kirche ist. Eine richtige Kirchenerfahrung. Eines ist klar: Kirche ist kein Gebäude. Vielmehr: Kirche ist die Gemeinschaft derjenigen, die Jesus Christus nachfolgen. Von dieser Mitte aus dürfen wir Kirche sein. Wenn uns das bewusst wird, freuen wir uns, am Sonntag miteinander Gottesdienste zu feiern. Und was wir feiern, das sollten wir auch zu leben versuchen. Hier sind wir offensichtlich ganz gehörig am Stolpern. Das nehmen Menschen, die sich verabschiedet haben, mehr wahr als viele, die bei allen kirchlichen Veranstaltungen dabei sind. Beispiele dafür? Beim Gottesdienst duzen wir einander selbstverständlich („und mit deinem Geist“) und nennen einander Schwestern und Brüder. Draußen siezen wir einander und tun so, als ob wir uns nicht kennen oder nichts miteinander zu tun haben würden. Im Glaubensbekenntnis sprechen wir von der einen Kirche und im Alltag sprechen wir ohne Bedenken von verschiedenen Kirchen. Gibt es nun eine Kirche, wie wir das im Credo lautstark sagen, oder gibt es verschiedene Kirchen? Geben wir uns mit der Diskrepanz einfach zufrieden, grenzen wir uns sogar voneinander ab und opfern wir damit unsere Glaubwürdigkeit?
Evangelisch sein
Wie wenig wir das bereits verstanden haben, zeigt unsere Sprache leider noch und noch. Evangelisch, orthodox, katholisch, adventlich, pfingstlich, reformiert: Es ist ein Skandal, wenn wir solche großartigen Begriffe, ohne zu erschrecken gebrauchen, um uns voneinander abzugrenzen. Sie alle beschreiben unsere Berufung, die uns verbindet. Und sie fordern uns auf, darin zu wachsen. Hoffentlich sind wir evangelisch, das heißt auf dem Weg des Evangeliums. Hoffentlich sind wir orthodox, das heißt rechtgläubig. Hoffentlich sind wir katholisch, das heisst mit einem Blick für das Ganze. Hoffentlich sind wir adventlich, das heißt mit einem Blick in die Weite. Hoffentlich sind wir pfingstlich, das heißt mit der Kreativität des Heiligen Geistes unterwegs. Hoffentlich sind wir reformiert, das heißt in einer Kirche, die immer wieder reformiert werden muss. Je mehr wir alle diese Bezeichnungen leben, umso mehr werden wir in der Einheit wachsen. Alle, die am vergangenen Dienstagabend in der Pfarre St. Konrad in Hohenems die herausragende Künstlerin Heilgard Bertel erleben durften, werden mir wohl zustimmen, wie diese grossartigen Begriffe so richtig zum Erklingen gekommen sind. Das berührt tief. Bischof Benno brachte es mit einem Franziskus-Zitat auf den Punkt: „Auf Christus schauen und weitergehen!“
Diesen Sonntag hören viele, die einen Gottesdienst mitfeiern, die deutlichen Gebetsworte Jesu: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“s (Joh 17,21). Wenn wir das zu Herzen nehmen, werden wir weniger Energie und Sorge aufwenden, um Kirchengebäude zu sanieren, sondern wir werden uns einsetzen, dass die Kirche glaubwürdig das Evangelium in unserer Zeit lebt und verkündet. Und dann werden vielleicht sogar Kirchenräume zu Orten, an denen Gott und Menschen gerne wohnen. Eine solche Kirche ist umgekehrt.
