Hannes Androsch

Kommentar

Hannes Androsch

Zusammenprall konträrer Lebensweisen

Markt / 29.12.2023 • 22:25 Uhr

Mit dem friedlichen Ende des Kalten Krieges hofften wir nicht nur auf das Ende der atomaren Bedrohung, sondern auch gleich auf das „Ende der Geschichte“ mit globaler Ausbreitung von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft. Dies hat sich mittlerweile als Wunschdenken erwiesen. Die Ereignisse der jüngsten Zeit – vom russischen Überfall auf die Ukraine bis zum abscheulichen Terrorangriff der Hamas auf Israel – zeigen einmal mehr, dass friedliche Lämmer sich selbst schützen oder geschützt werden müssen, solange es Wölfe gibt, die ihre Interessen und ihre Macht mittels brutaler Gewalt durchzusetzen versuchen.

Wir müssen uns daher eingestehen, dass wir heute zahlreichen Gefahren gegenüberstehen, vor allem repräsentiert durch Russland sowie den Konflikten im Nahen und Mittleren Osten, China und Afrika. Von den Entwicklungen in diesen Ländern bzw. Regionen ist Europa in besonderem Maße betroffen, gleichzeitig aber unfähig, sich selbst zu schützen, und folglich ohne den US-amerikanischen Sicherheitsschirm so gefährdet wie eine Schildkröte auf dem Rücken. Doch die Vereinigten Staaten werden in absehbarer Zeit – und im Falle der Wiederwahl Donald Trumps eher früher als später – die Sicherheit Europas nicht mehr garantieren wollen, umso mehr, als mit China eine zunehmend nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Herausforderung mit Taiwan, im Südchinesischen Meer und insgesamt im pazifischen Raum entstanden ist.

Zu einer besonderen Belastung, ja zu einer richtigen Zerrreißprobe sind für viele Staaten inzwischen auch die Flüchtlingsbewegungen geworden. Aufgrund der seit 2015 großen Zahl an Migranten erlebt Europa einen Zusammenprall von Lebensweisen, der sich von Paris über Brüssel oder Berlin bis Wien in seiner gewalttätigsten Form in zahlreichen Terroropfern und seit dem 7. Oktober auch am zunehmenden Antisemitismus bzw. Antijudaismus zeigt.

Die illegalen Migranten wollen nicht nach Russland, Indien oder China, sondern kommen – wenig überraschend – nach Europa. Die daraus resultierenden Herausforderungen wurden lange Zeit zu wenig beachtet und noch weniger zu lösen versucht, sodass unsere Gesellschaft an die Grenzen des Zumutbaren gelangt ist und eine multikulturelle Harmonie nicht funktioniert. Gleichzeitig aber verlangen unsere demografischen Verhältnisse die Zuwanderung von Arbeitskräften. Deren Integration kann jedoch nur gelingen, wenn es auf Seite der Zuwanderer entsprechende Bereitschaft und auf Seite der Gesellschaft ausreichend Absorptionsfähigkeit gibt. Länder wie Kanada, Australien, die Schweiz oder Dänemark zeigen, dass es bei der Migrationspolitik tatsächlich auch anders gehen kann. Österreich braucht also einen Kurswechsel.

„Die illegalen Migranten wollen nicht nach Russland, Indien oder China, sondern kommen nach Europa.“

Hannes Androsch

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Dr. Hannes Androsch ist Finanz­minister i. R. und Unternehmer.