„Das Leben ist immer lebenswert“

Menschen / 18.04.2022 • 17:23 Uhr
Julia strickt „mit den Fingern und nicht mit den Augen“. Diese zwei schönen Pullover hat sie zuletzt angefertigt. VN/Lerch
Julia strickt „mit den Fingern und nicht mit den Augen“. Diese zwei schönen Pullover hat sie zuletzt angefertigt. VN/Lerch

Julia Schneider war noch keine 40, als sie aufgrund einer Augenkrankheit erblindete.

Hard Julia Schneider (47) war zweieinhalb Jahre alt, als man erkannte, dass sie an einer degenerativen Netzhauterkrankung leidet, einer Krankheit, die spätestens mit 40 in die Erblindung führt. Ihrer Mutter war aufgefallen, dass sie öfters gegen die Tischkante rannte. „Für die Eltern war die Diagnose ein Schock, zumal sich dann auch noch herausstellte, dass nicht nur ich, sondern auch drei meiner vier Schwestern diese Erbkrankheit hatten.“ Sie sorgten sich um die Zukunft ihrer gehandicapten Töchter. „Mama und Papa wussten nicht, was aus uns wird. Aber als wir in die Blindenschule in die Schweiz kamen, sahen sie, dass wir gut ausgebildet werden. Das beruhigte sie.“ Die kleine Julia fühlte sich nicht gehandicapt, obwohl sie sehr schlecht sah. „Gesichter habe ich nie richtig gesehen, auch Vögel nicht. Aber ich weiß, wie die Sonne, der Mond und Bäume aussehen.“

Krankheit als Chance

Nach der Blindenschule besuchte die junge Harderin eine Handelsakademie. „Erst da merkte ich, dass ich anders bin als die anderen.“ Der Teenager fing an, übers Leben nachzudenken. „Mit 15 fragte ich mich, was der Sinn des Lebens ist und warum ich diese Krankheit habe. Ich wollte eine Erklärung und kam zu der Ansicht, dass diese Krankheit eine große Entwicklungschance für mich ist.“ Dieser Meinung ist Julia, die mit Ende Dreißig erblindete, auch heute noch: „Die Blindheit bringt mich am besten in der persönlichen Entwicklung voran.“ Julia fühlt sich vom Schicksal nicht benachteiligt. „Das Leben ist immer lebenswert. Sollte in meinem Leben die Blindheit das Schlimmste gewesen sein, das mir zustieß, dann kann ich mich glücklich schätzen und gut damit leben.“ Dank dieser Einstellung bewältigt(e) die Tochter eines Kleinunternehmers die Herausforderungen des Lebens besser. Nach der Hak-Matura, die sie mit Auszeichnung ablegte, studierte sie Wirtschaftsingenieurswesen an der Elite-Universität in Karlsruhe. Nach dem Studium begann Julia an der Fachhochschule (FH) Dornbirn als wissenschaftliche Mitarbeiterin zu arbeiten. Seit 2012 ist sie Hochschullehrerin für Prozessmanagement. Als FH-Lehrerin fühlt sich die 47-Jährige angekommen.

In ihrer Freizeit strickt und liest die Harderin gerne. „Früher musste ich mit einer Lupenbrille lesen. Heute liest mir der Computer Texte vor. Ich benutze auch gerne Hörbücher.“ Julia werkelt auch gerne in ihrem Garten, in dem viele schöne Rosen blühen. „Ich sehe die Blumen leider nicht mehr. Das stört mich.“ Auch beim Kochen und Putzen fände sie es praktisch, „wenn ich was sehen könnte. Dann wäre ich schneller.“ Die Hausarbeit strengt sie nicht an, wohl aber Gänge wie etwa der Weg zum Büro oder zum Arzt. Am meisten stresst es die blinde Frau, „wenn ich irgendwo hin muss, wo ich noch nie war.“

Die Engel des Alltags

Aber Julia wird im Alltag unterstützt. Wenn sie in „ihren“ Supermarkt geht, steht ihr das Personal hilfreich zur Seite. Auch auf ihren Partner und ihre Schwester Eva, die als einzige von der Augenkrankheit verschont blieb, kann Julia zählen. „Eva chauffiert mich, wenn es nötig ist, liest mir Strickanleitungen vor und geht mit mir Kleider kaufen. Und mein Lebensgefährte erledigt für mich die Post- und Bankgeschäfte.“

Julia hat viele Gründe um dankbar zu sein. Dass ihre Eltern sie eine Blindenschule besuchen ließen, erfüllt sie noch heute mit einem Gefühl des Dankes. Denn in dieser Spezialschule sei sie gefördert worden. Dort sei der Grundstein für Inklusion gelegt worden. „Inklusion ist erst dann geschafft, wenn man sich im Leben etabliert hat und einen Beruf ausübt, von dem man leben kann.“ VN-kum  

„Vögel habe ich noch nie gesehen. Aber ich weiß, wie die Sonne aussieht.“

Dank einer Blindentastatur kann die Hochschullehrerin ihren Computer bedienen. 
Dank einer Blindentastatur kann die Hochschullehrerin ihren Computer bedienen. 
Julia mit ihren Schwestern Heidelinde (l.), Belinda (r.) und Eva. Schwester Astrid fehlt. Sie lebt in Deutschland. Außer Eva sind alle blind.
Julia mit ihren Schwestern Heidelinde (l.), Belinda (r.) und Eva. Schwester Astrid fehlt. Sie lebt in Deutschland. Außer Eva sind alle blind.
Julia schaukelt den Haushalt ohne Hilfe. Sie kocht auch selbst.

Julia schaukelt den Haushalt ohne Hilfe. Sie kocht auch selbst.

Viele Jahre spielte Julia Torball. Das ist ein Ballsport für blinde Menschen.
Viele Jahre spielte Julia Torball. Das ist ein Ballsport für blinde Menschen.

Zur Person

Julia Schneider
ist ein gläubiger Mensch. „Durch meine Sehbehinderung fand ich zu Gott. Er ist mein Halt.“ 

Geboren 4. Mai 1974 in Bregenz

Familie in Partnerschaft

Hobbys Garten, Lesen, Stricken