„Gott wollte mich so“

Menschen / 19.03.2023 • 17:10 Uhr
Die zweijährige Ecrin bringt viel Freude in Sedayis Leben. VN/Paulitsch
Die zweijährige Ecrin bringt viel Freude in Sedayis Leben. VN/Paulitsch

Sedayi Kaya (49) ist ein gestandener Mann. Aber er misst nur 1,30 Meter.

Dornbirn Sedayi Kaya (49) erblickte in einer kleinen Stadt in Anatolien (Türkei) das Licht der Welt. Als Kind bedauerte er, dass er geboren wurde. „Ich wollte nicht da sein.“ Denn seine Größe entspricht nicht der Norm. „Ich bin 1,30 Meter groß.“ Sedayi wurde wegen seines Kleinwuchses massiv gehänselt. „Kinder beschimpften mich als Zwerg oder Liliputaner. Auch Erwachsene machten sich lustig über mich.“ Die Anfeindungen waren so heftig, „dass ich nicht mehr ins Freie und in die Schule gehen wollte“. Sedayi ängstigte sich vor den Menschen. „Ich habe mich hinter der Mutter versteckt.“ Oft war er so verzweifelt, dass er bitterlich weinte und sein Los zutiefst betrauerte. „Wenn mich Gott vorher gefragt hätte, ob ich auf die Erde kommen will, dann hätte ich Nein gesagt, so schlimm verhielten sich einige meiner Mitmenschen mir gegenüber.“

Eltern waren Cousin und Cousine

Seine Eltern, die miteinander verwandt sind und ihm und seinen zwei Geschwistern einen Gendefekt vererbten, der das Größenwachstum beeinträchtigt, trösteten ihn und nahmen ihn in die Arme. Aber vor dem Leben konnten sie ihr Kind nicht schützen. Um sich vor Verletzungen zu schützen, errichtete Sedayi im Laufe des Heranwachsens eine Mauer um sich herum. „Ich vertraute den Menschen nicht und ließ kaum jemanden an mich heran.“ Bald merkte er aber, dass sein Schutzwall ihn von der Welt abschirmte. „Das war kein Leben.“ Deshalb beschloss er, sich voll aufs Leben einzulassen.

Inzwischen hatte sich auch seine Einstellung zu sich selbst gewandelt. „Jahrelang fragte ich mich, wieso ich anders bin als andere Menschen. Lange fand ich darauf keine Antwort. Als junger Erwachsener wurde mir dann aber klar: Gott wollte mich so. Die Welt, die er geschaffen hat, ist bunt, voller Vielfalt. Es gibt große und kleine Bäume, dünne und dicke Menschen.“ Auf dem langen Weg zur Selbstakzeptanz half ihm außerdem die Einsicht, dass es Menschen gibt, die mit einem viel schlimmerem Schicksal zurechtkommen müssen. „Ich sagte mir: ,Sedayi, schau nicht auf die, die körperlich wohlgeformt sind. Schau auf die, die mehr zu tragen haben als du, Menschen etwa, die gelähmt sind.“ Im Lauf seines Lebens fragten ihn viele Menschen, warum er so klein ist. Aber erst als 30-Jähriger konnte er darauf eine „schöne Antwort“ geben: „Frag nicht mich, frag Gott, warum ich so geboren wurde. Dieses Kleid hat Gott mir gegeben. Ich habe es nicht bestellt.“

Sedayi war 13 Jahre alt, als ihn seine Eltern, die als Gastarbeiter in Vorarlberg arbeiteten, zu sich holten. Der Umzug nach Vorarlberg war ein Schock für den türkischen Buben. Aber als er die erste Hürde genommen und die Sprache erlernt hatte, begann er seine neue Heimat schnell zu schätzen. Denn: „Hier wurde ich viel weniger gemobbt als in der Türkei.“ Nach der Schule schnupperte der junge Mann in der Firma Zumtobel, in der auch sein Vater arbeitete. Sedayi gefiel die Arbeit und blieb. „Ich habe Kleinteile von Lampen verpackt.“ Später wechselte der Hilfsarbeiter in die Montage-Abteilung. „Seit 2003 habe ich einen geschützten Arbeitsplatz.“ Das Leben überraschte ihn positiv – auch in puncto Privatleben. Schon als Jugendlicher wünschte er sich „aus tiefstem Herzen“ eine Familie. Aber er glaubte nicht, dass er eine Frau zum Heiraten finden und jemals Kinder haben würde. Doch es kam anders als gedacht. Auf einer Hochzeit eines Kollegen flirtete der 20-Jährige mit Anis, einer hübschen Frau, die zwei Tische weiter hockte. „Eine Woche später habe ich ihr einen Brief geschrieben. Ich schrieb ihr, dass ich sie gerne kennenlernen würde. Daraufhin kam ein Brief zurück mit ihrer Telefonnummer.“ Ein Jahr später heirateten die beiden. Dem Paar wurden drei gesunde Kinder geschenkt. Die Begegnung mit Anis sieht Sedayi als göttliche Fügung. „Wir waren füreinander bestimmt und sind heute noch verliebt.“ Das Glück war ihm auch noch in anderer Hinsicht hold. Der kleinwüchsige Mann lernte die Mutter eines Kollegen kennen. „In Mahira habe ich eine zweite Mama gefunden.“ Unter anderem ermutigte sie ihn, seine X-Bein-Fehlstellung korrigieren zu lassen und den Führerschein zu machen. „Wenn man will und nicht faul ist, kann man vieles schaffen.“ Das Leben zeigt sich Sedayi derzeit von seiner schönsten Seite. Heute könnte er sich sogar vorstellen, noch einmal auf die Welt zu kommen, „obwohl ich weiß, dass das Leben manchmal sehr schlimm sein kann“. VN-kum

„Kinder beschimpften mich als Zwerg. Auch Erwachsene machten sich über mich lustig.“

Eine Leiter erleichtert Sedayi den Alltag.
Eine Leiter erleichtert Sedayi den Alltag.
Sedayi und Anis erinnern sich gerne an ihre Hochzeit.
Sedayi und Anis erinnern sich gerne an ihre Hochzeit.
Sedayi fährt ein großes, behindertengerechtes Auto.
Sedayi fährt ein großes, behindertengerechtes Auto.

Zur Person

Sedayi Kaya

1. September 1973 in Aksaray (Türkei)

Wohnort Dornbirn

Familie verheiratet mit Anis, drei Kinder, ein Enkelkind

Hobbys Lesen, Spazieren, Musik hören, Fußball schauen