Vorwürfe in Vorarlberg: Verhungert im Heim

Ein Mann zieht in ein Pflegeheim von Senecura – drei Monate später ist er abgemagert, wundgelegen und stirbt. Wurde er vernachlässigt? Seine Familie kämpft um Aufklärung.
Ein Beitrag von Julia Herrnböck.
Wenn die drei Söhne von ihrem Vater erzählen, schwingt Wärme in ihren Stimmen mit. Wie er sich im Rollstuhl sitzend durch die Wiese schob, um Thomas, dem jüngsten, bei der Gartenarbeit Gesellschaft zu leisten. Als Mensch mit einem starken Charakter beschreiben sie ihn. Nicht immer einfach, aber wer ist das schon? Quicklebendig sei er jedenfalls gewesen, bekräftigen alle drei in Gesprächen mit DOSSIER. Bis zum Jahr 2021.
Mit 88 Jahren wird er am Herzen operiert, am Tag der Operation hackt er noch selbst Brennholz. Ein Routineeingriff, doch es gibt Komplikationen. Er muss in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt werden und erholt sich davon nicht mehr richtig. Fortan ist ihr Vater von Unruhe getrieben. Schläft untertags, wandert nachts durchs Haus, überwindet Barrieren, die zu seinem Schutz aufgebaut worden sind. Er kommt für fünf Wochen in die Übergangspflege im Senecura-Heim Hard „Haus in der Wirke“ und dann mit Unterstützung einer 24-Stunden-Pflege wieder nach Hause. Bald wird klar: Der Vater ist dement, die Betreuung daheim nicht mehr möglich. Am 20. April 2022 zieht der Vater ins Heim.
Danach geht es rapide bergab: Rund drei Monate später wiegt er nur noch knapp 46 Kilogramm, rund 15 Kilo weniger als beim Einzug in das Pflegeheim, zeigen Arztbriefe. Kurz darauf stirbt er. Dazwischen: erfolglose Appelle der Söhne an den Pflegeheimbetreiber Senecura.
Und die Behörden des Landes. „Unser Vater ist verhungert“, klagen sie heute an – ein schwerer Vorwurf, der sich nicht leicht überprüfen lässt: Senecura verweigerte den Angehörigen die Herausgabe der sogenannten Pflegedokumentation. Diese umfasst alle relevanten Informationen zur Pflege und zum Gesundheitszustand von Patient:innen und Heimbewohner:innen, im Streitfall dient sie als Beweismittel. Erst der Patientenanwalt von Vorarlberg kann die Herausgabe der Unterlagen von Senecura erwirken. Das hohe Alter des Vaters ist laut Fachleuten, denen DOSSIER die Unterlagen vorgelegt hat, keine Erklärung für den massiven Gewichtsverlust.

Die Heimaufsicht des Landes Vorarlberg lässt schließlich ein Gutachten zu dem Fall anfertigen, das die Familie L. jedoch nicht bekommen soll – aus Datenschutzgründen. Das Dokument liegt DOSSIER inzwischen vor, und es wirft schwerwiegende Fragen auf: Wurde die Pflege eines Menschen wegen Personalmangels so sehr vernachlässigt, dass er schließlich starb? Ignorierte man bei Senecura die Angehörigen, die mehrmals auf den Gewichtsverlust ihres Vaters hingewiesen hatten? Und welche Rolle spielte die Aufsicht des Landes Vorarlberg?
Der Fall erinnert an einen Pflegeskandal in einem Senecura-Heim im Salzburger Stadtteil Lehen: 2022 wurde der Fall öffentlich bekannt und sorgte für Empörung im ganzen Land. Auch in Salzburg wurden Hilferufe von Angehörigen und Mitarbeiter:innen monatelang ignoriert – bis die Volksanwaltschaft das Heim unangekündigt aufsuchte und acht Bewohner wundgelegen und unterversorgt vorfand. Die Heimaufsicht des Landes hatte das Heim in Salzburg mehrfach kontrolliert und die Pflege bis zuletzt als „angemessen“ beurteilt. Genau wie in Vorarlberg.
Kein Einzelfall
Weder der nun von DOSSIER aufgedeckte Fall im Ländle noch der Skandal von Salzburg-Lehen sind Einzelfälle – nicht für Senecura, nicht für den Konzern dahinter. Seit fast zehn Jahren gehört Österreichs größter profitorientierter Pflegeheimbetreiber zum französischen Aktienkonzern Orpea. Seit 2022 das Buch Les fossoyeurs („Die Totengräber“) erschienen ist, kommt das Unternehmen nicht aus den Schlagzeilen.
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Der Fall in Vorarlberg fügt sich ins Bild bisher bekannter Missstände in den Heimen der Gruppe. Seit mehr als einem Jahr recherchiert DOSSIER dazu. Im April dokumentierten wir im Magazin „Profit und Not in der Altenpflege“ Vorwürfe, die Senecura-Firmen betreffen. Es geht um Vernachlässigung, Sparzwang, Einschüchterung von Kritiker bis hin zu Misshandlungen durch Pflegekräfte, die sich dafür vor Gericht verantworten mussten. Seit Veröffentlichung meldeten sich weitere Menschen mit Hinweisen bei DOSSIER, darunter Familie L. aus Vorarlberg. Sie hat der Verwendung der Fotos in diesem Artikel zugestimmt. Um die Würde des Vaters zu wahren, wurde sein Name geändert.
Schon kurz nachdem Franz L. im April 2022 ins Senecura-Heim in Hard eingezogen ist, bemerken die Söhne, wie ihr Vater rasant Gewicht verliert. In den Pflegeberichten werden das Ess- und Trinkverhalten, die Mengen, die Unterstützung durch die Pflege dabei sowie das Ablehnen durch Herrn L. beschrieben – damit wird später auch die Heimaufsicht des Landes argumentieren. Doch die Söhne des Mannes bezweifeln, dass er in der Praxis die notwendige Hilfe beim Essen und Trinken bekommen hat, die er gebraucht hätte.
Thomas L. erzählt von einem seiner Besuche im Pflegeheim: Sein Vater sei am Ende eines Gangs gesessen. Allein. Auf dem Tisch vor ihm ein unberührtes Wurstbrot. Im Mund: kein Gebiss. „Wie soll er ohne Zähne essen?“, fragt Thomas noch heute wütend. Die Pflegekraft vor Ort hätte auf seine Beschwerde desinteressiert reagiert. Dabei hätte das Personal wissen müssen, dass Herr L. Unterstützung beim Essen braucht: „Der Bewohner ist aufgrund einer eingeschränkten Selbstständigkeit beim Essen/Trinken beeinträchtigt“ und „kann die Nahrung nicht selbstständig zum Mund führen“, steht deutlich in einem Entlassungsbrief des Landeskrankenhauses Bregenz vom Oktober 2021, der dem Pflegeheim vorlag.
Ein anderes Mal erleben Familienmitglieder, wie dem Vater ein Medikament „mit Gewalt eingeflößt wurde. Auf diese Art hat man früher Gänse gestopft, und es ist absolut menschenunwürdig“ – so beschreibt es die Familie in einem Gedächtnisprotokoll, das sie an das Land Vorarlberg übermittelt. Ebenso, dass Franz L. im Heim panisch wurde und nur noch wegwollte. Zweieinhalb Wochen nach seinem Einzug – es ist Muttertag – holt die Familie den Vater für einen Besuch zu Hause ab.

„Trotz Ankündigung war er nicht zur Abholung vorbereitet“, halten die Angehörigen später in einem Protokoll fest. „Wir konnten ihm keine Schuhe anziehen, weil er an beiden Füßen einen dicken, straffen Verband hatte“, schildert Sohn Thomas. Die Pflegekraft im Heim habe daraufhin behauptet, es handle sich nur um oberflächliche Hautwunden und „er ist schon so ins Heim gekommen“. Zu Hause angekommen, fällt einem Familienmitglied – einer diplomierten Pflegekraft – auf, dass die Wunden bereits übel riechen. Sie öffnet die Verbände, findet darunter schwarzes Gewebe. Der Vater kommt ins Spital, wo ihm Dekubitus an beiden Fersen und am Steiß operativ entfernt werden muss – er muss zweieinhalb Wochen im Krankenhaus bleiben und kehrt dann wieder ins Pflegeheim zurück.

Im Juli wird er mit Kreislaufschwäche ins Spital eingeliefert. Er ist dehydriert, wiegt nur noch knapp 46 Kilo. Die Familie bittet die Heimleitung um ein Gespräch – und um den Aufnahmebericht, aus dem klar hervorgehen müsste, in welchem Zustand ihr Vater im April ins Heim kam. Doch die Heimleitung ignoriert die Aufforderung, den Aufnahmebericht zu schicken. Sie stellt sich auch nicht selbst den Fragen der Angehörigen, sondern schickt einen Mitarbeiter. Bei diesem Termin geht es auch um Geld, das Senecura für jene Tage, die Herr L. im Spital verbrachte, zurücküberweisen müsste. Franz L. bezieht eine hohe Pension und ist ein sogenannter Selbstzahler. Das heißt, er berappt die Kosten für die Pflege fast zur Gänze aus eigener Tasche. Rund 5400 Euro überweist er jeden Monat an Senecura. Der älteste Sohn Armin, ein Jurist, reicht bei der Landesregierung Beschwerde gegen Senecura ein. Am 28. Juli überprüft die Amtssachverständige von der Landesregierung deshalb das Heim und besucht Herrn L.
Anfang August 2022 stirbt Franz L. im Alter von 89 Jahren. Die Familie trauert, will eigentlich mit dem Fall abschließen. Dass wegen ihrer Beschwerde die Landesregierung alle Senecura-Heime in Vorarlberg prüfen lässt, weiß die Familie zu diesem Zeitpunkt nicht. Auch nicht, dass danach „bei den Senecura-Häusern in Hohenems ein Aufnahmestopp ausgesprochen wurde, der bis heute aufrecht ist“, wie eine Sprecherin der zuständigen Abteilung auf Anfrage von DOSSIER bestätigt. Mehr könne man wegen der Amtsverschwiegenheit nicht sagen.
Parallele zu Salzburg
Anfang September 2022 berichteten Medien über die katastrophalen Zustände im Senecura-Heim in Salzburg-Lehen. Familie L. erfährt von dem Fall aus den Medien. Sohn Armin wendet sich erneut an das Land: Der Fall in Salzburg erinnere „stark an den Zustand unseres Vaters, der ebenfalls in einem Senecura-Heim gepflegt wurde“, schreibt er, bittet um das Ergebnis der Überprüfung und fragt, ob bei der Staatsanwaltschaft Anzeige erstattet wurde. Das sei vom Land im Zuge seiner Beschwerde in Betracht gezogen worden, erzählen die Brüder.
Doch für eine Anzeige sieht man beim Land Vorarlberg keine Veranlassung mehr. Das Gutachten der Amtssachverständigen bekommt die Familie L. ebenfalls nicht. Lediglich zwei Absätze daraus werden in ein Schreiben an Beschwerdeführer Armin L. kopiert. Die Sachverständige erklärt darin den Dekubitus und den massiven Gewichtsverlust unter anderem mit der Vorgeschichte des Vaters, der Übergangspflege nach der Operation und seinem „herausfordernden Verhalten“. Pflegefehler schließe sie aus, die Vorgehensweise des Heims beurteilt sie als „angemessen“.
Die Brüder bekräftigen im Gespräch mit DOSSIER, dass ihr Vater ohne Wunden ins Heim gekommen sei. Der Hausarzt, der Herrn L. bis zu dessen Einzug ins Heim behandelt hat, bestätigt das auf Nachfrage. Im Gutachten des Landes steht, dass bei der Aufnahme nicht vermerkt wurde, dass er Wunden gehabt hätte. „Der Entstehungsort (zu Hause oder Senecura-Sozialzentrum Hard) kann anhand der Pflegedokumentation nicht nachvollzogen werden. Gegen eine Entstehung zu Hause spricht, dass im Aufnahmebericht das Vorhandensein eines Dekubitus nicht beschrieben wird.“ Bis kurz vor seinem Tod soll er mit Appetit gegessen haben, wenn er dabei unterstützt wurde.
„Potenzielle Schädigungen und Gefährdungen der Bewohnenden und Mitarbeitenden sind nicht auszuschließen“
Gutachten der Amtssachverständigen des Landes Vorarlberg vom 3. August 2022 – Franz L. verstirbt drei Tage später
Mehrfach haben die Söhne die Heimleitung um Unterlagen gebeten, aus denen sein Zustand und die Pflegemaßnahmen hervorgehen müssten. Doch Senecura mauert. Zunächst verweigert man die Übermittlung, weil von der Familie „keine Gründe für die Herausgabe“ angeführt worden seien. Ein anderes Mal argumentiert man, dass mit dem Tod das gesetzliche Recht der Angehörigen auf die Pflegedokumentation erlösche – jeweils beruft sich Senecura darauf, die Persönlichkeitsrechte des verstorbenen Mannes zu schützen. Das sieht der Patientenanwalt von Vorarlberg, Alexander Wolf, anders.
Offenbar versuche „das Heim auf diesem Weg, einem Prüfverfahren vorzubeugen. Das halte ich für unzulässig“, meint Wolf. Erst als er im Namen der Brüder zur Übermittlung der Pflegedokumentation auffordert, kommt Senecura seiner Pflicht nach – und wieder ergeben sich mehr Fragen als Antworten. Denn die Pflegedokumentation von Senecura ist unvollständig, stellt die Amtssachverständige des Landes fest. Ihr Gutachten liegt DOSSIER vor: Der massive Gewichtsverlust lässt sich anhand der Pflegedokumentation nicht nachvollziehen. Ein Dekubitus wurde im Aufnahmebericht nicht vermerkt, nur das Risiko dafür. Senecura hatte ja gegenüber den Söhnen behauptet, er sei damit schon ins Heim gekommen. Und weiter: Die Pflegeplanung sei „lückenhaft“ und „nicht schlüssig“. Dass die Angehörigen Beschwerde einbrachten, weil sie über die Dekubitus nicht informiert wurden, bezeichnet die Sachverständige der Heimaufsicht als „nachvollziehbar“. Sie empfiehlt dem Heim, zusätzliches Personal für Herrn L. hinzuzuziehen, da sein Betreuungsbedarf „nicht in die gesetzlichen Personalvorgaben eingerechnet ist“. Und trotz all dieser Missstände kommt die Sachverständige zu dem Schluss: keine Pflegefehler.
Gefährliche Pflege
Die Leitung des Senecura-Heims begründet Versäumnisse in der Pflege gegenüber der Amtssachverständigen mit der angespannten Personalsituation. Laut Gesetz hat der Träger eines Pflegeheims dafür zu sorgen, dass „jederzeit genügend geeignetes Personal zur Verfügung steht“. Das Land erteilt Senecura die Auflage, eine Überlastungsanzeige zu stellen, wenn das nicht gewährleistet werden kann. „Potenzielle Schädigungen und Gefährdungen der Bewohnenden und Mitarbeitenden sind nicht auszuschließen“, hält die Sachverständige nach ihrem Besuch fest.

Das Land Vorarlberg will „zum Einzelfall“ keine Auskunft geben und bezieht sich auf die Amtsverschwiegenheit. Auch das ist aus Salzburg bekannt, wo Pflegekräfte überlastet waren und Bewohner zu Schaden kamen. Dort beurteilte die Heimaufsicht die Pflegesituation selbst dann noch als angemessen, als die Versorgung der Bewohner nicht mehr gewährleistet werden konnte.
Anstatt auf Fragen zu den neuen Vorwürfen in Vorarlberg einzugehen, verweist Senecura auf eine Postkarte, die DOSSIER „gerne veröffentlichen könne“. Die Söhne von Franz L. hatten dem Pflegeteam darauf nach dem Tod ihres Vaters gedacht. „Wir haben großen Respekt und Wärme für ihren Einsatz“, steht dort. „Vertragspartner war immer Senecura. Jeder Vorwurf gilt dem Unternehmen, nicht einzelnen Pflegekräften“, sagt Sohn Jörg heute dazu.
Bei DOSSIER hat sich eine weitere Familie gemeldet, die Senecura vorwirft, eine Bewohnerin vernachlässigt zu haben: gleiches Heim, gleiche Zeit. Bei Senecura will man auf Anfrage nichts sagen: Auch bei diesem „Einzelfall“ beruft man sich auf den Datenschutz.
DOSSIER ist eine gemeinnützige Redaktion für investigativen Journalismus. Seit mehr als einem Jahr recherchiert die Redaktion zu Missständen in Pflegeheimen. Das neue Magazin DOSSIER Mini ist ab sofort im Handel.