“Gott wollte, dass ich ein Kind mit Behinderung bekomme”

Hale Hämmerle ist die Mutter von Selina (18), die körperlich und geistig schwer beeinträchtigt ist. Die 44-jährige Lauteracherin hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden.
Lauterach Hale Hämmerle (44) brachte im Jahr 2006 ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt. „Es war ein Schock. Die Welt stand für mich still. Ich brauchte einige Zeit, bis ich realisierte, dass ich ein beeinträchtigtes Kind habe.“ Hale bekam es mit der Angst zu tun. „Ich fürchtete mich vor der Verantwortung und vor der Zukunft.“ Die zweifache Mutter schlitterte in eine Depression. „Nach eineinhalb Jahren suchte ich mir Hilfe. Ich ging zu einem Psychologen und setzte mich mit meiner Trauer auseinander. Die psychologische Beratung tat mir gut.“

Selina, die in den ersten drei Jahren ihres Lebens unter Epilepsie litt und bis zu 35 Anfälle am Tag hatte, stellte das Leben der Hämmerles auf den Kopf. „Ich war gebunden und lebte nach ihrem Tempo. Selina gab mir das Leben vor.“ Das Mädchen kann weder sprechen noch gehen. „Selina ist geistig und körperlich schwer beeinträchtigt. Sie ist auf den Rollstuhl angewiesen. Ich muss ihr das Essen eingeben. Außerdem muss ich sie wickeln, manchmal bis zu zehnmal am Tag.“

Als Selina ins Schulalter kam, wurde die ausgebildete Pädagogin entlastet. „Selina besucht das Schulheim Mäder. Das ist eine Top-Institution. Meine Tochter geht gerne zur Schule und sie kommt auch zufrieden heim. Die Mitarbeiter dort arbeiten mit Leib und Seele. Da kann man nur danke sagen.“ Nach der Schule spielt das gehandicapte Mädchen gerne mit ihrem Bären, einem Stofftier, das Musik macht. „Auch Rasselspielzeug mag sie gerne.“ Menschenmengen hingegen scheut die 18-Jährige. „Das macht ihr Angst, dann schreit sie“, verrät Hale und gibt Selina einen Kuss auf die Wange. Daraufhin kuschelt sich ihre Tochter eng an sie.
Selina bekommt von ihrer Familie viel Liebe. „Mein Ex-Mann Gilbert ist ein toller Vater.“ Auch Selinas älterer Bruder kümmert sich liebevoll um sie. „Mikail liebt seine Schwester innig. Mein Sohn musste früh erwachsen werden, weil sich alles um Selina drehte.“ Aus dieser ist ein fröhlicher Mensch geworden. „Sie steht mit einem Lachen auf. Wenn sie lacht, vergesse ich kurzzeitig meine Sorgen.“ Hale überwand viele ihrer Ängste. Aber eine Sorge lässt sie nicht los. „Einerseits hätte ich gerne, dass Selina vor mir stirbt, damit ich weiß, dass es ihr gut geht. Andererseits möchte ich nicht das eigene Kind begraben müssen.“ Die Mutter weiß nicht, was die Zukunft bringt. Aber sie vertraut auf Gott. „Er wollte es, dass ich ein Kind mit schwerer Behinderung bekomme. Er ist auch weiterhin für mein Schicksal verantwortlich.“

Die Lauteracherin, die als Ordinationsassistentin bei einem Arzt arbeitet, ist mit ihrem Schicksal ausgesöhnt. „Aber an Tagen, an denen ich erschöpft und überfordert bin, hadere ich.“ Doch inzwischen sieht sie es nicht mehr als Tragödie an, dass sie ein Kind wie Selina hat. Denn: „Sie hat uns Dankbarkeit, Zufriedenheit und Demut gelehrt. Außerdem brachte sie uns bei, die kleinen Freuden des Lebens zu schätzen.“
Im nächsten Leben möchte Hale aber nicht mehr Mutter werden. „Kinder bereichern zwar dein Leben, aber sie bedeuten auch eine große Verantwortung. Bei einem Kind mit Handicap ist die Verantwortung noch größer. Diese möchte ich nicht noch einmal tragen müssen.“ Doch Hale wurde durch Selina stärker, weil sie für sie kämpfen musste. „Ich bin verpflichtet, mein Kind zu schützen. Deshalb lasse ich mir in Bezug auf Selina gar nichts gefallen.”

Die Hämmerles mussten sich schon einiges anhören. „Einmal wurde uns ins Gesicht gesagt, dass Selina wie ein Affe ausschaut.“ Ein andermal pöbelte ein alter Mann die Hämmerles an: Er attackierte sie mit Anspielungen auf NS-Vorgehensweisen. Das blieb nicht ohne Konsequenzen. „Gilbert verpasste dem Mann eine Ohrfeige.“ Hale streichelt ihrer Tochter den Rücken. Dann sagt sie plötzlich und voller Bestimmtheit in die Stille hinein: „Selina ist nicht weniger wert, weil sie eine Beeinträchtigung hat. Nicht nur gesunde Menschen haben ein Recht zu leben.“