Kolumne: Das Menschlein
Niemand wunderte sich, dass das Menschlein in der Hundehütte schlief. Es wollte. Es hatte es sich so ausgesucht. Eng umschlungen schlief es bei dem Hund, der doppelt so groß war. Nichts störte das Menschlein, nicht, dass der Hund aus dem Maul stank, nicht, dass er Haare verlor.
Die Hausherrin stellte dem Menschlein drei Mal am Tag frisches Futter und frisches Wasser an die Hundehütte. Sie gab ihm das Beste. Kalbsleber am Sonntag, am Werktag Rind- oder Schweinefleisch, auch Hammel, leicht angeröstet. Tier und Menschlein mundete es.
Als das Menschlein vor fünf Jahren aus der Hausherrin geschlüpft war, stand der Hund daneben und weinte vor Freude. Die Hausherrin hatte dem Menschlein ein Bettchen aus Batist zurecht gemacht. Kaum hatte der Hausherr das Menschlein behutsam hineingelegt, stellte sich der Hund auf die Hinterbeine, holte das Menschlein heraus und trug es in die Hundehütte. Auch das Kissen und die Zudecke nahm er mit. Hausherr und Hausherrin fanden sich damit ab.
Hunde aus der Nachbarschaft pilgerten zu der Hundehütte und sahen hinein. Sie beneideten den Hund um das Menschlein.
Ein Hund war voller Missgunst und schlich sich in der Nacht zur Hundehütte, um das Menschlein zu stehlen. Er bezahlte das mit seinem Leben. Der große Hund hatte ihn totgebissen.
Die Hausherrin nähte aus Lammfell ein Mäntelchen für das Menschlein, darunter ein Höschen aus Schafwolle. Das behielt das Menschlein an, bis es ihm zu klein war. Dann ersetzte es die Hausherrin durch ein neues Gewand gleichen Materials.
Die Nachbarn tuschelten, aber sie wagten es nicht, den Hausherrn auf das Menschlein anzureden.
So lebten sie in Eintracht.
Bald sprach sich herum, dass in der Nacht über der Hundehütte ein Schein leuchtete und bald auch wurde davon berichtet, dass es sich um ein Wunder handeln musste und Menschlein und Hund Heilige seien. Es wurde zwar bezweifelt, ob ein Hund heilig sein könnte, aber es hieß dann, der Hund sei ein in ein Tier verwandelter Mensch und als Beschützer für das Menschlein gedacht.
Auch andere Tiere, vor allem Ziegen und Schweine hatten Ehrfurcht vor der Heiligkeit, sie drängten sich am Zaun und glotzten.
Das Gras um die Hundehütte stand sehr hoch. Der Gärtner ließ es wachsen, auch Gebüsch wuchs mit der Zeit empor, und Tannen, so dass es aussah wie in einem Wäldchen. Im Winter wurde um die Hundehütte ein zeltartiges Tuch gebreitet, um die Heiligen zu schützen.
Hausherr und Hausherrin besprachen sich oft nachts im Bett und kamen zur Einsicht, dass das Menschlein nicht mehr zu ihnen gehörte. Sie zogen fort und gaben Auftrag zur regelmäßigen Versorgung.
Einmal ertappte der Hausherr seine Frau auf den Knien, sie betete bei offenem Fenster, und das letzte Wort, das er hörte hieß: Mein Menschlein, verzeih mir.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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