Kolumne: Das Talent (3)
Die Zwillinge hießen Luis und Lino. Sie wohnten in dem großen Haus oben am Ende der Straße. Einmal erst war Rebecca dort gewesen. Die Siedlung reichte nicht bis hinauf, nach dem letzten Haus war Wald, und dann erst war die Villa. Luis und Lino gingen mit ihr in dieselbe Klasse. Sie waren eingebildet. Weil reich.
An dem Tag, als das Unglück geschah, war Rebecca im Vorgarten, um Unkraut zu zupfen. Das wünschten sich ihre Eltern. Sie hatte die Mutter sagen hören, das vertreibe die gescheiten Flausen aus dem Kopf. Jäten könne jeder. Es sei gut, wenn Rebecca sich nicht nur mit Dingen beschäftige, die nur sie könne und sonst nur noch ganz wenige. Sie meinten damit die Mathematikbücher, die Rebecca auslieh und die für Gymnasiasten in den höheren Klassen waren, und auch die waren ihr schon zu langweilig. Aus Unkrautzupfen werde kein Genie, meinte die Mutter. Und das sei gut so. Da sauste die Seifenkiste der Zwillinge die Straße herunter, schneller als jedes Auto, und genau in den Zaun hinein. Sie überschlug sich, es klang wie ein Autounfall, und blieb in den Ästen der Hecke hängen. Luis klemmte unter der Kiste, die Beine nach oben, die Arme seltsam verrenkt. Lino schrie. Aber nur einmal schrie er. Dann war er still und reglos. Rebecca versuchte, Luis unter der Kiste hervorzuziehen. Es gelang ihr nicht. Er wimmerte und hustete. Rebecca rief um Hilfe nach allen Seiten. Niemand war da. Sie suchte ihr Handy, fand es nicht, sie hatte es beim Jäten irgendwohin gelegt. Lino befreite sich und stand nun neben der Seifenkiste und schaute in den Himmel. Nicht zu seinem Bruder schaute er. Der immer noch eingeklemmt war. Luis sollte auf die Seite gelegt werden. So viel wusste Rebecca, die Atemwege mussten frei sein, die Zunge lose, damit er nicht erstickte. Sie zog an seinem Ärmel, sie hatte zu wenig Kraft. Lino stand nur da und schaute in den Himmel.
“Bis sie oben bei den reichen Leuten sein würde, das würde zu lange dauern, das Gesicht des Buben war schon blau geworden.”
„Hilf mir!“, befahl sie ihm. „Zieh da, ich zieh da!“
Rebecca rannte die Straße hinauf, warf die Hausschuhe von den Füßen und lief in Strümpfen. Bis sie oben bei den reichen Leuten sein würde, das würde zu lange dauern, das Gesicht des Buben war schon blau geworden. Sie klingelte und klopfte an die Tür von irgendeinem Haus. Die dort wohnten, kannte sie nicht, niemand öffnete. Da sah sie unten das Blaulicht. Ihr Vater war gerade den Weg heraufgekommen und hatte Louis befreit und 144 angerufen.
Luis lag bereits im Rettungswagen, als Rebecca dazukam. Sein Bruder saß auf der Rückbank, die Hände vor den Augen. Immer noch still. Blutig war sein T-Shirt.
Lino erzählte in der Schule, sein Bruder liege im Krankenhaus. Dort blieb er fast drei Wochen.
Rebecca saß auf dem Bettrand. Ich hätte, dachte sie, anstatt über die Straße hinaufzurennen, mein Handy suchen sollen. Es war neben dem Beet gelegen. Sie klopfte beim Schlafzimmer ihrer Eltern, es war erst zehn Uhr am Abend, sie würden noch nicht schlafen.
„Ich habe falsch gehandelt“, sagte sie.
„Du warst zu aufgeregt“, sagte der Vater.
„Ich war nicht aufgeregt“, sagte sie. „Ich habe nur nicht richtig nachgedacht.“
„Das ist normal“, sagte die Mutter, „in so einer Situation.“
„Ich kann nur gut nachdenken“, sagte Rebecca, „wenn es um nichts geht. Wenn es um etwas geht, bin ich dumm.“
Fortsetzung nächsten Mittwoch
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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