700 Kinder brauchen den Staat

Politik / 26.01.2016 • 22:24 Uhr

Landesrätin will bei Wohnkosten ansetzen, Experte hält nichts vom ÖVP-Vorschlag.

WIen, Bregenz. 700 Minderjährige würden ohne Hilfe des Staates nicht auskommen. Dies zeigen Zahlen aus dem Sozialressort des Landes, die den VN vorliegen. 700 Vorarlberger Kinder leben demnach in Familien, die Mindestsicherung beziehen. Mehr Kinder, als die Gemeinde Brand Einwohner hat. Laut Soziallandesrätin Katharina Wiesflecker (51, Grüne) würde es diese besonders treffen, sollte die Mindestsicherung auf 1500 Euro gedeckelt werden, wie es die ÖVP fordert. Zum Beispiel gibt es in Vorarlberg 18 Mindestsicherungsfälle von Alleinerziehenden mit vier oder mehr Kindern, die betroffen wären. Scharf reagiert Emmerich Tálos (71), Österreichs Sozialstaatexperte: „Ich halte von diesem Vorschlag überhaupt nichts.“

Die Mindestsicherung soll es Menschen ermöglichen, Lebensunterhalt und Wohnkosten zu decken. Eine einzelne Person erhält 630 Euro pro Monat, dazu die Wohnkosten; bei Paaren und Familien ändert sich das (siehe Factbox). Bei Familien mit Kindern steigt dieser Betrag rasch über 1500 Euro. Das will die ÖVP nicht mehr. Wie mehrfach berichtet, will die Volkspartei bei 1500 Euro eine Grenze einziehen. Laut Wiesflecker würde dieses Geld direkt bei den Lebensunterhaltskosten wegfallen, denn die Wohnkosten blieben unverändert. Um dies zu verdeutlichen, beschreibt sie zwei Beispiele, ebenfalls in der Factbox verdeutlicht. „Ich will bei den Wohnkosten ansetzen“, erklärt Wiesflecker.

So sollen vermehrt Wohngemeinschaften (WG) geschaffen werden, um Kosten zu senken. „Das würde ebenfalls das Mindestsicherungsbudget schonen“, führt Wiesflecker aus. Die Caritas versuche dies schon seit einigen Jahren. Bisher kamen 160 Mietverhältnisse für rund 500 Personen zustande. In Vorarlberg sind bereits 23 Prozent der Mindestsicherungsbezieher anerkannte Flüchtlinge, heißt es aus dem Sozialressort des Landes. Gerade in dieser Gruppe würde es laut Wiesflecker helfen, wenn sie nach der Grundversorgung in WGs unterkommen würden.

Kein Beleg für Missbrauch

Ein weiteres Argument der ÖVP: Wer zu hohe Sozialleistungen kassiere, wolle nicht mehr arbeiten. Soziale Hängematte also. Für Wiesflecker sprechen die Zahlen eine andere Sprache: „Im Schnitt brauchen Menschen sechs Monate lang die Mindestsicherung. 30 Prozent sind Vollbezieher, die anderen sogenannte Aufstocker.“ Heißt: Sie hätten ohne Unterstützung zu wenig Geld zum Leben. Aufgestockt werden Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, aber auch normale Löhne. „Mindestlöhne rauf statt Mindestsicherung runter“, fordert die Soziallandesrätin deshalb.

Matthias Kucera (43), Sozialsprecher der ÖVP im Landtag, unterstützt den Vorschlag seiner Kollegen in Wien, mit zwei Einschränkungen. Die Grenze soll erst nach sechs Monaten greifen. Zudem sollen Aufstocker ausgenommen werden. „Für Aufstocker kann ich mir zusätzlich sogar einen Wiedereinstiegsbonus über die Wohnbeihilfe vorstellen“, teilt Kucera in einer Aussendung mit.

Universitätsprofessor Emmerich Tálos nimmt die Wirtschaft in die Pflicht. Österreich habe zu wenig Arbeitsplätze: „Ich halte es für einen Fehler, ein Problem des Arbeitsmarktes auf die Betroffenen abzuwälzen.“ Für Sozialmissbrauch sei ihm kein empirischer Beleg bekannt. „Das sind reine Behauptungen“, hält Tálos fest. Zudem gäbe es bereits Instrumente, um bei Missbrauch der Sozialleistungen zu kürzen.

Die Familienbeihilfe ist von dieser Diskussion nicht betroffen, sie hat mit der Mindestsicherung nichts zu tun. Mindestsicherungsbezieher erhalten denselben Betrag wie alle anderen.

Mindestlohn hinauf statt Mindestsicherung runter.

Katharina Wiesflecker

Mindestsicherung in Vorarlberg

Was ist die Mindestsicherung?

Sie steht grundsätzlich jedem Bürger zu, der weniger als 838 Euro monatlich zur Verfügung hat. Die Mindestsicherung umfasst Leistungen, um den Bedarf für den Lebensunterhalt und für das Wohnen zu decken. Lebensunterhalt heißt: Nahrung, Bekleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung, Strom und andere persönliche Bedürfnisse. Der Wohnbedarf wird in der tatsächlichen Höhe übernommen, sofern die Kosten angemessen sind.

Eine alleinstehende oder alleinerziehende Person erhält 630,76 Euro pro Monat. Volljährige Personen in einem gemeinsamen Haushalt (zum Beispiel Ehepartner oder Lebensgemeinschaften) erhalten 471,22 Euro pro Person. Für jede weitere erwachsene und unterhaltsberechtigte Person gibt es 314,16 Euro, je Kind 183,09 Euro.

Bei der Ermittlung der tatsächlichen Höhe werden auch die Einkünfte und wirtschaftlichen Verhältnisse des im Haushalt lebenden Partners berücksichtigt. Auch eigene Vermögensverhältnisse spielen eine Rolle.

 

Zwei Rechenbeispiele:

» Familie I: Eine Alleinerziehende mit drei Kindern erhält derzeit 1179 Euro monatlich Lebensunterhalt plus angenommene Wohnkosten von 780 Euro, macht insgesamt 1960 Euro. Diese Familie würde bei einer Deckelung 460 Euro weniger im Monat erhalten. 

» Familie II: Ein Ehepaar mit zwei Kindern erhält derzeit 1300 Euro monatlich Lebensunterhalt plus angenommene Wohnkosten von 750 Euro, zusammen also 2050 Euro. Eine Deckelung würde 550 Euro weniger bedeuten.