„Gemeinsam oder gar nicht“

Politik / 09.01.2018 • 22:44 Uhr
Staaten sind zu wenig bereit, Souveränität zu teilen, sagt Lammert. A. Meusburger
Staaten sind zu wenig bereit, Souveränität zu teilen, sagt Lammert. A. Meusburger

Für Norbert Lammert sind die großen Fragen der Zukunft nur gemeinsam zu lösen.

Bregenz Der ehemalige deutsche Bundestagspräsident Norbert Lammert ist überzeugt: Die heutige Generation wäre die dümmste Generation, sollte sie Europa zugrunde gehen lassen. Im VN-Interview erklärt er, weshalb.

 

Ist die EU in Gefahr?

Lammert Ich glaube, wir nehmen Europa zu selbstverständlich.  Aber der Reflex, jeder sollte möglichst sein eigenes Ding machen, ist ein Rückmarsch ins 19. Jahrhundert. Henry Kissinger hat einmal gesagt: Was uns Personen oder Institutionen wert sind, kann man ermitteln, wenn man sich fragt, wie wichtig sie einem wären, wenn es sie nicht mehr gäbe.

 

Wie souverän sind Staaten eigentlich noch?

Lammert Je substanzieller es wird, desto weniger. Es ist natürlich albern zu glauben, dass alles, was regelungsbedürftig ist, europäisch geregelt werden muss. Aber unsere Vorstellungen von den Lebensbedingungen einer modernen Gesellschaft auf diesem Kontinent sind über Jahrhunderte gewachsen. Wenn wir überzeugt sind, dass wir diese Grundrechte, Menschenrechte, unentziehbare Freiheits- und Gleichheitsansprüche auch in Zukunft aufrechterhalten müssen, gelingt uns das entweder gemeinsam oder gar nicht.

 

Sind Staaten bereit, ihre Souveränität zu teilen?

Lammert Ganz offenkundig nicht in ausreichendem Umfang. Die britische Entscheidung, die ich für eine historische Kopflosigkeit halte, ist der Reflex auf einen Souveränitätsverlust, den man für unzumutbar hält. Doch die Briten werden die Erfahrung machen, dass sie außerhalb der EU weder an Souveränität noch an Attraktivität gewinnen. Dort ist nun der zu späte Prozess des Nachdenkens über die Wirkung der eigenen getroffenen Entscheidung zu beobachten.

 

Gibt es auch anderswo unbeabsichtige Wirkungen getroffener Entscheidungen?

Lammert In Deutschland brauchen wir zum ersten Mal Monate, um nach einer Wahlentscheidung eine auf diesem Votum beruhende Regierung zu bilden. Das ist nicht das Ergebnis einer Verweigerungshaltung von Parteien. Die SPD erklärte am Wahlabend unter Beifall einer großen Mehrheit das Ende der großen Koalition, weil sie abgewählt wurde. Und jetzt sagt eine bemerkenswerte Anzahl der gleichen Wähler: Verdammt noch mal, ihr müsst eine große Koalition bilden. Was aber, sobald sie zustande kommt, die andere Hälfte der Wähler wieder zutiefst frustrieren, vielleicht sogar empören wird.

 

Warum sind einfache nationale Antworten eigentlich so erfolgreich?

Lammert Aufgrund des Überforderungsempfindens, der Verlustängste und des Bedürfnisses, irgendwo einen festen Punkt in einer sich immer schneller drehenden Entwicklung zu haben. Da werden Auskünfte attraktiv, die den Eindruck erwecken, die Lösung sei ganz einfach. Aber so ist es nicht. Und schon gar nicht lassen sich Herausforderungen bewältigen, wenn man entscheidet, man steigt aus dieser oder jener Entwicklung aus. Im Übrigen ist auch die Vorstellung unzutreffend, dass wir heute mit Veränderungen konfrontiert wären, die wir nicht beschlossen hätten, während es früher anders gewesen sei. Wie ist es mit der Elektrizität, der Dampfmaschine oder dem Flugzeug gewesen? Sie haben alle eine Eigendymanik entwickelt, wie heute die Digitalisierung.

 

Ist in der Politik Verpackung wichtiger geworden als Inhalte?

Lammert Ich sehe keinen linearen Trend. Ein nicht immer glücklicher, aber kaum vermeidbarer Effekt einer freiheitlichen offenen Gesellschaft ist, dass sich der Unterhaltungswert amtierender Politiker in gleichen Ämtern verbraucht.

 

Sind Veränderungen attraktiver?

Lammert Ja klar, und die Medien spielen dabei auch eine Rolle. Sie sind viel mehr an Personen als an Sachverhalten interessiert. Diese Fixierung auf Personen führt dazu, dass sie in bestimmten Abständen das erschöpfte Interesse an immer den gleichen Personen durch die Aufmerksamkeit für andere Personen kompensieren müssen.

 

Wie wird Europa in 30 Jahren aussehen?

Lammert Das kann ich Ihnen naturgemäß nicht sagen. Ich bin allerdings ein bisschen nervös. Im Lichte der historischen Entwicklung Europas hat sich dieser Kontinent nie in einer besseren Verfassung befunden. Umso schmerzlicher ist es, dass sich der Kontinent über seine eigene Zukunft noch nie so uneinig war wie gegenwärtig. Václav Havel hat einmal gefragt, ob wir eigentlich wissen, was wir wollen? Diese Frage beschreibt das Dilemma ziemlich präzise.

Zur Person

Norbert Lammert
war von 2005 bis 2017 deutscher Bundestagspräsident (CDU). Seit Dezember 2017  Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Geboren 16. November 1948

Sonstiges Honorarprofessor der Uni Bochum, verheiratet, vier Kinder