Unsere Kathedrale
Auf der Stadtautobahn Périphérique ist alles anders als sonst. Keine Spur von Stau, flüssigster Verkehr. Es ist ja auch noch dunkel, halb sechs Uhr. Eigentlich viel zu früh für eine Diskussion, vor allem eine politische. Aber mein Uber-Fahrer klopft mich ab. Wohin ich fliegen werde? Zurück nach Autriche. Aha, wie das Leben am Bodensee so ist – ideal um Kinder groß zu ziehen, aber manch (rechts-)politische Sorgen in Österreich, derzeit. Gegenfrage, um das Französisch nicht einrosten zu lassen, wie das Leben in Paris derzeit denn so sei.
Ich ziele auf die Gelbwesten-Proteste, den unter Druck stehenden Emmanuel Macron, die ausbleibenden Reformen. Dinge eben, die ich am Vorabend mit französischen Unternehmern diskutierte. Ich erwarte eine Antwort, aus anderer Perspektive freilich, aber sinngemäß so, dass das Leben in Paris härter geworden sei, zu teuer, Probleme mit der Jobsuche.
Ziemlich schwierig in Paris
Tatsächlich sagt der junge Fahrer, der laut Uber-App Mohammed heißt, dass es aktuell gerade ziemlich schwierig in Paris sei. Und liefert eine Begründung nach, die mich dann doch überrascht: die ausgebrannte Kathedrale Notre Dame, ich wisse schon. Furchtbar sei das, schließlich sei die Kirche das älteste, was Paris zu bieten habe. Alles habe sie überstanden, den ersten Weltkrieg, die Deutschen im zweiten Weltkrieg, gar nicht an die Revolution zu denken.
Ich frage vorsichtig, ob die Kirche also mehr für ihn sei, als nur eine Kirche – einer anderen Religion, wohlgemerkt. Denn Mohammed saß nicht immer in seinem gepflegten Ford Mondeo, er stammt aus Nordafrika – dem Maghreb, wie die Franzosen zu sagen pflegen.
„Das bevorstehende Osterfest soll uns eine besondere Auferstehung bringen. Eine Auferstehung der Debattenkultur.“
Mohammed ist überrascht, ein ganz klein bisschen empört möglicherweise. Es spricht nun ein stolzer Franzose. Und allein, dass mir das auffällt, zeigt, dass ich ihm unterstellte, aufgrund seines Teints, seiner dunklen Locken etwas weniger französisch zu sein. Er spricht jetzt jedenfalls für alle Pariser: Natürlich sei das mehr als nur unsere Kirche, sie verkörpere die Geschichte von Paris, von uns allen. Dass die Feuerwehr noch so viel retten konnte, sei ein Trost. Ich berichte von meinem Besuch an der ausgebrannten Kirche.
Wir nähern uns schon dem Flughafen, Terminal 1. Stolz beleuchtet in den Farben der Tricolore, Blau, Weiß, Rot. Fühle mich in diesem Moment sehr verbunden mit Mohammed. Jenem jungen Mann, dem ich – ohne ihn zu fragen – eine Meinung vorab untergeschoben habe. Von dem ich dachte, dass ich wüsste, was ihn umtreibt.
Diese frühmorgendliche Episode in der Karwoche war so viel mehr wert als die fünf Bewertungs-Sterne, die die Uber-App zulässt.
Eine Auferstehung tut not
Das bevorstehende Osterfest soll uns eine besondere Auferstehung bringen. Eine Auferstehung der Debattenkultur. Wir müssen wieder anfangen, bewusst mit Menschen zu reden, obwohl sie zu einem politischen Stall gehören mögen, der gerade nicht unser Weltbild abdeckt. Wir müssen beginnen, die Gemeinsamkeiten in unserer Gesellschaft zu suchen, anstatt notorisch das Trennende herauszuarbeiten. Es lässt sich nicht alles in rechts oder links, gut oder böse einteilen. Das Leben ist nicht nur voller Schattierungen, hat viele Graustufen – sondern vor allem die verschiedensten Farben.
An diesem Morgen eben Blau, Weiß, Rot.
Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.
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