Kathrin Stainer-Hämmerle

Kommentar

Kathrin Stainer-Hämmerle

Souveräne Entscheidung

Politik / 24.09.2019 • 22:35 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Erschöpft biegen die Wahlkämpfer in die Zielgerade und mit ihnen das Publikum. Fünf Tage vor der Wahl gilt es noch zu mobilisieren was, wann und wo es geht. Schließlich entscheiden sich Bürger immer später, ob sie zur Wahl gehen und wem sie ihre Stimme geben. 2017 fiel diese Entscheidung bei 460.000 Wählern mehr oder weniger am Weg ins Wahllokal. Bei den heurigen EU-Wahlen bekannten sich sogar mehr als 840.000 Stimmberechtigte zu den last minute deciders.

Dass diese Gruppe allerdings geschlossen einer Partei am Sonntag den Vorzug gibt, ist unwahrscheinlich. Viel eher fällt die Entscheidung zwischen zwei Parteien, etwa zwischen ÖVP und FPÖ oder zwischen SPÖ und den Grünen. Hier sind die größten Wählerbewegungen zu erwarten. Insofern wirkt es fast paradox, wenn Pamela Rendi-Wagner in der Endphase der Kampagne versucht, Sebastian Kurz als charakterlos darzustellen. Die SPÖ hat noch nie in größerem Ausmaß Stimmen von der ÖVP gewinnen können.

Dennoch steckt Strategie hinter den Anschuldigungen der Unehrlichkeit über Herkunft (Wien-Meidling oder Waldviertel) und Unmenschlichkeit (keine Hilfe für den fiebernden Norbert Hofer). Denn es geht erstens um Aufmerksamkeit nach dem Motto: Hauptsache, es wird über mich diskutiert, egal ob positiv oder negativ. Zweitens gelingt Mobilisierung am besten gegen ein Feindbild. In diesem Fall die soziale Kälte der Türkisen.

Doch auch die anderen Parteien erhöhen die Warnstufe. Die FPÖ plakatiert Schwarz-Grün, obwohl diese Kombination in keiner Umfrage eine Mehrheit findet. Kurz warnt vor einer neuen Flüchtlingswelle und vor einer linken Koalition gegen ihn. Beides entbehrt derzeit einer realen Grundlage. Doch die größte Gefahr für die ÖVP ist das Gefühl mancher Wähler, das Rennen wäre schon gelaufen. Sie könnten zu Hause bleiben oder einen möglichen Juniorpartner der künftigen Regierung stärken. Dafür stehen alle bereit: FPÖ, Grüne, Neos, sogar die SPÖ.

Der Anteil dieser taktischen Wähler ist bei den Grünen und Neos am höchsten. Sie haben auch am meisten Spätentscheider. Bisher haben sie trotzdem nicht in den Schmutzkübel gegriffen. Das tut der Wahlauseinandersetzung gut. Ob die Wähler es auch belohnen, wissen wir am Sonntag. Denn in der Endphase eines Wahlkampfs geht es nicht nur um Unentschlossene. Es entsteht meist auch der größte Schaden im Vertrauen in politische Eliten aufgrund der spaltenden Angriffe und Untergriffe und der wachsenden Anzahl von anonymen Vorwürfen und Anzeigen.

Dennoch sollten Sie sich als Wähler davon nicht Ihre wichtigste Mitbestimmungsmöglichkeit verdrießen lassen. Nichtwählen ist zwar auch eine Form des Protests, aber sie ändert nichts. Wahlen schon. In einer Demokratie sind wir nicht nur Publikum. Wir sind der Souverän.

„Dennoch steckt Strategie hinter den Anschuldigungen der Unehrlichkeit über Herkunft und Unmenschlichkeit.“

Kathrin Stainer-Hämmerle

kathrin.stainer-­haemmerle@vn.at

FH-Prof. Kathrin Stainer-Hämmerle, eine gebürtige Lustenauerin, lehrt Politikwissenschaften an der FH Kärnten.