„Happy Birthday“
Als ich vor drei Wochen von Wien nach London flog, schlossen sich buchstäblich hinter mir die Türen: An der Wiener Staatsoper erlebte ich die letzte Vorstellung (Turandot) vor Toresschluss, dann sperrten alle anderen Theater, sämtliche Museen und die meisten Geschäfte zu, dann kam das Ausgehverbot, die Selbst-Isolation, die Maskenpflicht in Lebensmittelgeschäften – doch all dies erfuhr ich nur noch aus den Medien, denn jetzt war ich ja in England. Und hier gab es – nichts. Vorerst. Doch, etwas gab es: Premierminister Boris Johnson, noch wirrerer blonden Mähne als sonst, der vor laufenden Fernsehkameras eines tat: Hände waschen. Dazu sang er „Happy Birthday“. Zwei Mal. Das dauerte genau 20 Sekunden. Dies verordnete er der ganzen Nation als (damals) einzige Maßnahme im Kampf gegen Sars-CoV-2. Denn 20 Sekunden solle man, so empfiehlt die Royal Pharmaceutical Society, die Hände waschen, um den Killervirus verlässlich zu beseitigen. Und fürs Timing, so empfahl der Prime Minister, dazu „Happy Birthday“ singen.
Inzwischen ist auch in Großbritannien alles anders -die Briten haben nachgezogen, und die Zahl der Infizierten über 25.000 sowie, leider, auch der Todesopfer (1789), steigt rapide an. Das kühne Projekt „Herdenimmunität“ ist längst begraben, die Straßen sind ausgestorben, das Toilettenpapier ratzeputz aus sämtlichen Geschäften verschwunden. Und den Premier sowie den Thronfolger (und selbst den Gesundheitsminister) hat‘s erwischt: Sie wurden positiv getestet und verschwanden hinter geschlossenen Türen – auf Schloss Balmoral der eine, in Downing Street der andere. Dass Prinz Charles mit „milden Symptomen“ einen der begehrten Tests erhielt, die dem Krankenpersonal („key workers“) vorbehalten sind – und dann mit Gattin Camilla aufs schottische Schloss geflogen wurde, unmittelbar bevor die Regierung die Flucht aufs Land offiziell untersagte – hat viel böses Blut gemacht und weiter an den Säulen der Monarchie gesägt.
Das Händewaschen wurde nicht in England erfunden, doch die zweifellos berühmteste Händewasch-Szene der Weltliteratur kommt von hier. Natürlich von Shakespeare. Lady Macbeth vermeint in ihrem Wahn nach dem Königsmord an Duncan das vergossene Blut von ihren Händen zu waschen: „Alle Wohlgerüche Arabiens können diese kleine Hand nicht säubern.” Aber das Händewaschen als Schutz gegen Bakterien (und Viren!) hatte ein Wiener Arzt erfunden: Ignaz Semmelweis, geboren 1818 im ungarischen Buda. Als Chirurg und Geburtshelfer arbeitete er im Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Er entdeckte, dass die extrem hohe Sterberate an Kindbettfieber darauf zurückzuführen war, dass Ärzte und Medizinstudenten direkt von Leichensektionen in den Gebärsaal kamen, „mit an der Hand klebenden Cadavertheilen“ – meist ohne sich die Hände zu waschen und schon gar nicht zu desinfizieren. Die Übertragung von Bakterien war damals noch nicht bekannt.
Das Händewaschen wurde nicht in England erfunden, doch die zweifellos berühmteste Händewasch-Szene der Weltliteratur kommt von hier.
Semmelweis wies seine Studenten an, Hände und Instrumente nach Leichensektionen und vor Untersuchungen zu desinfizieren – was die Sterblichkeit sofort rapide senkte. Doch Semmelweis wurde diese lebensrettende Erkenntnis nicht gedankt. Die (mehrheitlich aus der Wiener Oberschicht stammenden) Kollegen fühlten sich angegriffen. Semmelweis wurde von den Medizinern als „Nestbeschmutzer“ angefeindet. Es ist zu vermuten, dass antisemitische Motive dabei eine nicht geringe Rolle spielten. Nach Konfrontationen mit der Ärzteschaft erkrankte Semmelweis an schweren Depressionen und wurde 1865 in die Niederösterreichische Landesirrenanstalt in Wien-Alsergrund eingeliefert, wo er zwei Wochen danach verstarb – an einer Sepsis, offenbar verursacht durch offene Wunden einer verschmutzten Zwangsjacke. Dass die jüdische Vorschrift des rituellen Händewaschens vor den Mahlzeiten die „revolutionären“ Erkenntniss von Ignaz Semmelweis beeinflusste ist zwar nicht verbrieft, aber sehr wohl vorstellbar. Denkbar ist auch, dass das Schicksal von Ignaz Semmelweis Modell für Arthur Schnitzlers „Professor Bernhardi“ war, der unter antisemitischen Anfeindungen zu leiden hatte.
Dass viele Juden im Mittelalter nicht Opfer der Pest wurden, dürfte sehr wohl auf ihre religiösen Hygieneregeln zurückzuführen sein. Semmelweis wurde ebenso Opfer der Ignoranz wie die Juden des Mittelalters. Bekanntlich wurde ihnen unterstellt, Brunnen vergiftet und die Pest gebracht zu haben – die Folge waren blutige Pogrome.
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