Kathrin Stainer-Hämmerle

Kommentar

Kathrin Stainer-Hämmerle

Wertewandel

Politik / 15.04.2020 • 06:59 Uhr

100 Tage ist die türkis-grüne Regierung erst im Amt. Die kurze Frist erscheint so lang, weil sich im letzten Monat unser Leben gravierend verändert hat. Die Minister scheinen nicht mehr so neu, weil wir viele von ihnen Tag für Tag sehen und hören. Noch nie jedoch gelang es einer Regierung, sich so schnell Vertrauen und Popularität zu erarbeiten. Ein Rezept dafür lautet kommunikative Einigkeit ohne parteipolitisches Hickhack. Bis auf den Ausrutscher von Vizekanzler Werner Kogler mit der Erbschaftsteuer passt kein Blatt zwischen die Regierungsvertreter bei ihren zahlreichen Sonderauftritten. Doch diese Phase ist begrenzt, so wie die meisten Corona-Gesetze. Wenn es nach der Krise um die Aufarbeitung und vor allem um den Schuldenabbau geht, werden ideologische Gegensätze wohl schärfer zutage treten. Denn keine Regierung zerbricht, solange sie Geld verteilt.

Keine Zeit für Streit

Selbst der Opposition ist dieser Tage bewusst, dass in Krisenzeiten Zusammenhalt eher belohnt wird als Differenzierung oder gar Kritik. Zum Teil ist es den Parteien recht, dass manches nicht im Rampenlicht steht. So ist die Diskussion um die Mitgliederbefragung der SPÖ genauso vertagt wie die Aufarbeitung von Spesen- und Abhörskandalen bei der FPÖ. Interne Streitigkeiten oder gar Uneinigkeit über die Parteispitze sind derzeit uninteressant. Doch die vollkommene Abmeldung der Opposition ist vor allem bei der SPÖ nicht verständlich. Hat sie doch nicht nur eine Expertin für öffentliche Gesundheit an ihrer Spitze. Es könnte auch die Zeit der Wiederkehr von sozialdemokratischen Werten anbrechen. Allerdings müsste die SPÖ gemeinsam mit ihren Schwesterparteien in anderen Ländern ihre Ideen weiterentwickeln, abseits des alten und dennoch wichtigen Konfliktes Arbeit gegen Kapital.

Moderne Sozialdemokratie

Pläne von Verstaatlichung, Grundeinkommen und Erbschaftsteuer schienen längst schon in der historischen Mottenkiste oder Sozialromantikerecke verräumt. Obwohl sie genau jene Ideen eines starken solidarischen Staates sind, von dem Pamela Rendi-Wagner gerne spricht. Doch was fehlt sind moderne Konzepte und neue Begriffe für ihre Vision einer zukunftstauglichen Politik.

Es könnte die Zeit der Wiederkehr von sozialdemokratischen Werten anbrechen.

Vor allem aber fehlt der Mut, mit alten Dogmen zu brechen. Das erinnert an die Finanzkrise 2008. Bereits damals versäumte die Sozialdemokratie ihre Chance auf Themenführerschaft eines notwendigen Wertewandels. Doch wer unbeirrt an Vollbeschäftigung und Wachstum festhält, wird auch zukünftig an der Umgestaltung unserer Gesellschaft scheitern. Begriffe wie Arbeit, Leistung, Wettbewerb, Gewinn oder Gerechtigkeit müssen dafür neu definiert werden. So könnte die derzeit viel geübte Solidarität auch für die Opposition zum Erfolgsrezept werden.