Krisenmoral
Erst kommt die Krise, dann kommt die Moral, könnten wir in Abwandlung Bert Brechts ein Jahr nach Ibiza und kurz vor der „neuen Normalität“ (Zitat Sebastian Kurz) sagen. Doch in der Politik lassen sich die Phasen nicht trennen. Wir verlangen von öffentlichen Personen und besonders von Politikern sowohl in als auch außerhalb von Krisenzeiten moralisches Verhalten. Diese Lektion hat der Bundeskanzler im Kleinwalsertal gelernt: Wer von anderen eine Maske verlangt, sollte zumindest selbst eine tragen.
Heinz-Christian Strache ereilte diese Lehre vor einem Jahr. Selbst in privater bis beschwipster Urlaubs-Atmosphäre muss ein Politiker sich immer seiner Vorbildwirkung als öffentliche Person erinnern. Der Rücktritt als Vizekanzler und Parteichef war nach Ibiza unumgänglich und wahrte einen Rest von moralischer Integrität der österreichischen Politik. Der kaum zwölf Monate später erfolgte Wiedereinstieg ins politische Geschehen lässt an Straches Kurzzeitgedächtnis sowie seinen ethischen Maßstäben zweifeln. Der Polit-Neustart stellt auch Moral und Erinnerungsvermögen der Wähler auf die Probe.
Wählbar trotz Fehlverhalten
Noch vor der populären Umbenennung in Liste HC erreichte die von Strache-Fans gegründete Partei DAÖ in Umfragen die Hälfte seiner alten Heimatpartei. Zaubert die FPÖ nicht noch einen Wiener Wunderwuzzi aus der Tasche, könnte Strache gar aufschließen zu seinen ehemaligen Parteifreunden. Das freut zunächst die Gegner der FPÖ und lässt die Frage offen: Wie kann das sein? Was erwarten sich Wähler von ihren Vertretern, wenn manche trotz öffentlich gewordenem Fehlverhalten weiter als wählbar angesehen werden?
Die Schlüssellochperspektive auf Verrat und Gesetzesbruch verschafft mehr Lust als der mühselige redliche Austausch von Fakten und Argumenten.
Offensichtlich greift hier das Muster der Pauschalierung. Wer generell keine hohe Meinung von der Politik hat, ist über Fehltritte kaum empört. Im Gegenteil: Die Schlüssellochperspektive auf Verrat und Gesetzesbruch verschafft mehr Lust als der mühselige redliche Austausch von Fakten und Argumenten. Diese Gratwanderung ist für Medien, deren Geschäft die öffentliche Aufmerksamkeit ist, besonders heikel. Die Spekulation mit Quote und Auflage verleitet dazu, auch jenen eine Bühne zu bieten, die aus moralischer Sicht davon ausgeschlossen werden sollten.
Herz statt Bauch
Doch die Praxisprobe sollte uns immun machen. Populisten aller Art haben sich in der Coronakrise mit ihrem Krisenmanagement disqualifiziert. USA, Russland, Brasilien und Großbritannien führen die globale Negativ-Hitliste an und haben noch eines gemeinsam: An der Spitze regiert ein Mann mit wenig Bewusstsein für demokratische Kontrolle, kaum Verständnis für objektive Fakten, aber mit hoher Affinität zu Vorurteilen und gefühlsbasierten Entscheidungen. Politik mit Herz bedeutet jedoch nicht Entscheiden aus dem Bauch und schon gar nicht Regieren auf dem Rücken der Schwächsten.
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