Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Aylans Tod hat nichts verändert

Politik / 07.09.2020 • 19:00 Uhr

Vergangene Woche hat man sich also wieder an Aylan Kurdi erinnert. Aylan war jener 3-jährige Bub, der am 2. September 2015 vor der türkischen Küste im Mittelmeer ertrank. Das Schlepperboot, das ihn und seine aus Syrien geflohene Familie von der Türkei nach Griechenland bringen sollte, war gekentert. Die Welt blickte damals mit Entsetzen auf das tote Kind, fast alle Medien veröffentlichten das Foto. Ein kleiner Bub, der wie schlafend am Strand liegt, sein rotes T-Shirt ist ein wenig hochgerutscht. Doch er schläft nicht, er ist tot.

Das traurige Bild des toten syrischen Kindes gehörte eine Zeitlang zum fixen Repertoire der meisten Medien, wenn sie das Grauen der Flucht symbolisch veranschaulichen wollten. Weil es ein ikonisches Bild sei, sagen viele bis heute. Wenn man tote Menschen, die sich nicht mehr wehren können, den Blicken aller preisgibt, kann man es ikonisch nennen, und es geht sich schon wieder moralisch aus (Aylans Vater Abdullah Kurdi war mit den Veröffentlichungen allerdings einverstanden). Ob solche Aufnahmen dann tatsächlich etwas zur Bewusstseinsbildung der Leser und Zuschauerinnen beitragen, ist ehrlicherweise zweitrangig – die Bilder schaffen jedenfalls Aufmerksamkeit und Emotion, wichtig im Mediengeschäft.

Das Kind im Napalm-Angriff

Gerne vergleicht man Aylans Bild auch mit jenem ikonischen Foto des neunjährigen Mädchens Phan Thị Kim Phúc, das 1972 nackt aus einer Napalm-Wolke floh – ein Bild des Vietnamkriegs, das sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Und dennoch gibt es hier einen wesentlichen Unterschied: Der Vietnamkrieg spielte sich damals hinter der US-Militär-Propaganda in einem fernen Land ab, man wusste nicht viel über die Geschehnisse vor Ort, das Bild des Kindes im Napalm-Angriff hatte also zu dieser Zeit großen aufklärerischen Wert. Aylan Kurdis Foto zeigte hingegen nur, was zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon klar und oft berichtet war: Viele Menschen, auch viele Kinder, riskieren alles und sterben auf dem Weg nach Europa.

Aylans Tod hat nichts verändert, Aylans Bild auch nicht. Das muss man fünf Jahre danach leider nüchtern feststellen. Die EU ringt noch immer um eine durchdachte, gemeinsame Flucht- und Migrationspolitik. Menschen leben nach wie vor unter elenden Bedingungen in Flüchtlingslagern, wie etwa im griechischen Camp Moria. Der Ton in der politischen Debatte hat sich seit 2015 weiter verschärft, starke Bilder entfalten in dieser Gesamtatmosphäre heute nicht mehr die große Wirkung.

Der Ton in der politischen Debatte hat sich seit 2015 weiter verschärft, starke Bilder entfalten heute nicht mehr die große Wirkung.

So viele ikonische Aufnahmen des Elends überall – und ein großer Teil des Publikums in Europa hat dennoch vor allem Angst davor, dass noch mehr Menschen kommen.